Gauck: Eine Biographie (German Edition)
in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlichen Bereitschaft zum Dienen und zur Hingabe.« Schließlich nutzte Gauck auch seine erste Weihnachtsansprache, um den Bundeswehrsoldaten und zivilen Helfern in Afghanistan für ihren Einsatz zu danken.
Eigenwillige Formulierungen
Im ersten Jahr seiner Amtszeit sprach Joachim Gauck bei verschiedenen Anlässen Sätze oder sogar nur einzelne Worte aus, die anschließend zu öffentlichen Kontroversen führten. Regelmäßig geschah das dann, wenn Gauck sich nicht an die für ihn vorformulierten Texte hielt, sondern eigene Redewendungen benutzte. Ein Beispiel dafür war die Rede bei seinem Besuch der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, als er sagte: »Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.« Spontan und intuitiv hatte er in sein vorbereitetes Redemanuskript das Wort »glückssüchtig« eingefügt, das dort vorher nicht gestanden hatte. Linke und Teile der SPD schrien zetermordio. Das sei »Kriegspropaganda«, Gauck betreibe »Werbung für Kriegseinsätze im Amte des Staatsoberhauptes«. In diesem Fall hatte die Ver 362 wendung des einen Wortes »glückssüchtig« in Kombination mit »deutsche Gefallene« die Gemüter erregt und bewirkt, worum es Gauck ging: die Würdigung der deutschen Soldaten in Afghanistan, die dabei ihr Leben riskieren.
Ähnliche Wirkung entfaltete die Neufassung eines Satzes seines glücklosen Vorgängers Christian Wulff . Dessen bedeutendste politische Aussage seiner kurzen Amtszeit hatte gelautet: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Gauck formulierte diesen Satz in einem Interview mit der ZEIT um und sagte: »Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.« Daraufhin zeigten sich muslimische Organisationen »irritiert« und »enttäuscht«. Grünen-Chef Cem Özdemir meldete sich zu Wort und stellte klar, wenn »Muslime, die hier leben, zu Deutschland gehören, dann gehört natürlich auch ihr Islam zu Deutschland«. Mit nur einem Satz hatte Gauck die öffentliche Debatte über den Islam in Deutschland in eine differenziertere Richtung gelenkt. Dabei hatte er sich inhaltlich nur um eine Nuance anders ausgedrückt als sein Vorgänger Christian Wulff. Er hatte dessen Aussage seine eigene persönliche Tonalität gegeben; statt von einem abstrakten Fakt ging er von den Menschen aus. Gaucks Pressesprecher, Andreas Schulze, erklärte Gaucks Ansatz so: »Er dekonstruiert Sätze und bildet sie neu. Als Pfarrer hat er gelernt: Die großen Worte des Glaubens müssen neu formuliert, neu ausgesprochen werden. Sonst wird das von den Leuten nicht aufgenommen.«
Im März 2013 war es wieder nur ein Wort, das zu empörten Reaktionen führte. Anlass dazu war der FDP -Politiker Rainer Brüderle, der in der Woche zuvor an den Pranger gestellt worden war, weil er in einem nächtlichen Gespräch an einer Bar mit einer Journalistin, eine von ihr als unpassend erachtete Bemerkung über ihr Dekolleté gemacht hatte. Gauck, in einem Spiegel -Interview zum öffentlichen 363 Umgang mit Brüderle in dieser Angelegenheit befragt, antwortete: »Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwartet.« In seiner ansonsten diplomatischen Stellungnahme zu dem Vorgang hatte Gauck mit einem einzigen Wort, Tugendfuror, zum Ausdruck gebracht, was er wirklich darüber dachte. Der Aufschrei derjenigen, die Brüderles Bemerkung als sexistisch betrachteten, war groß.
»Alles nicht so schlimm«, meinte Gauck zu den kontroversen Debatten, die die von ihm gewählten Formulierungen gelegentlich auslösten, er habe eben »Ecken und Kanten«. Bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten habe es niemanden gegeben, »der sich nicht gewünscht hätte, ich sollte der bleiben, der ich bin«. Der Zweiundsiebzigjährige betonte: »Das ich nach fünf Jahren überhaupt nicht mehr Gauck bin, das will ich überhaupt nicht.« Dennoch bemühte er sich, sich in dieser Hinsicht zu disziplinieren: »Was ich lernen musste, ist das Amtsbewusstsein. Früher konnte ich jederzeit offen meine Meinung sagen und damit auch mal ordentlich anecken.« Helga Hirsch urteilte über diese besonderen Formulierungen ihres ehemaligen Lebensgefährten: »Das ist keine Strategie, sondern wenn er solche Sachen sagt, entspricht das einfach seinem Weltbild.«
In seinem Willen, authentisch zu bleiben und nicht zum reinen Vorleser vorgefertigter diplomatischer Redemanuskripte zu
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