Gauck: Eine Biographie (German Edition)
die tränenreiche Ergriffenheit ist in den vergangenen Jahren ein Teil der Routine des Vortragsredners Gauck geworden«. Der kommentierte das ironisch: »Das Feuilleton zählt inzwischen meine Tränen.« Diejenigen, die diese Kritik übten, verstanden sein Wesen nicht. Gauck spielt seine Emotionalität nicht. Es kostet ihn vielmehr allergrößte Mühe, sie im Zaum zu halten. Genauso schnell, wie er zu Tränen gerührt sein kann, ist es möglich, dass er in Rage gerät, etwa wenn er das Gefühl hat, dass ihm Unrecht geschieht. Cornelia Schmalz-Jacobsen beobachtete: »Er kann sich, wenn es um andere geht, auch sehr ärgern und dabei geradezu explodieren. Insbesondere wenn er von Menschen Ratschläge bekommt, die er 368 für nicht integer hält.« Deutschland hatte noch keinen Bundespräsidenten, der sein Inneres so wenig vor der Öffentlichkeit abschirmt wie Gauck. Bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen kommt das geöffnete Fenster zur Seele des Bundespräsidenten gut an.
Über seine Glaubwürdigkeit hinaus besitzt Joachim Gauck eine außergewöhnliche Ausstrahlung, mit der er sich ebenfalls von den meisten anderen Politikern abhebt. Der Journalist Dieter Bub beschrieb das als »starke, zwingende Präsenz. […] Er ist überall der Mittelpunkt. Er weiß um die Wirkung, genießt sie, bekennt sich zu seiner, wie er meint, ›gelegentlichen Eitelkeit‹, die in Wahrheit ein Charakterzug ist, wie bei allen guten Pastoren.« Stefan Wolle drückte es so aus: »Er hatte eine Menge natürlicher Autorität. Er war fast schon eine Vaterfigur, ein Mann, zu dem man Vertrauen haben konnte.« Hansjörg Geiger schließlich beobachtete: »Wenn er den Raum betrat, wurde es oft sehr still, seine Ausstrahlung hat ihm wohl selbst am meisten imponiert.« Geiger weiter: »Wenn wir in einen Raum voll Menschen kamen, starrten die Leute in seine Richtung, selbst wenn sie ihm vorher den Rücken zugewandt hatten, das hatte ich so noch nicht erlebt, es war frappierend.«
Das größte Pfund Joachim Gaucks, seine Begabung als Redner, kommt ihm im Amt des Bundespräsidenten in besonderer Weise zugute. Wo auch immer er auftritt, er trifft fast immer den richtigen Ton. Hansjörg Geiger über Gaucks Fähigkeiten zu formulieren: »Er hat einen sehr breiten aktiven Wortschatz. Wow, denkt man, das ist es, wenn er mit einem einzelnen Wort, das einem selber nicht einfallen würde, auf den Punkt das beschreibt, worum es geht.«
Gauck spricht sehr pointiert und verwendet gelegentlich drastische Formulierungen. Die Rechtsradikalen kanzelte er beispielsweise schon mal als die »Bekloppten« ab 369 und stellt sich ihnen angstfrei mit offenem Visier entgegen. »Worauf die stolz sind, das hasse ich. Ich bin aber stolz auf das, was die hassen.« Die DDR -Nostalgiker erinnert er an den »verbrecherischen Kommunismus der fünfziger Jahre und den maskierten Stalinismus der späteren Zeit«.
45 Der Redner
Gaucks Kernbotschaft aber ist eine positive. Sie lautet: Ihr wohnt in einem freien, wunderbaren Land, seid stolz darauf! Der elfte Bundespräsident will dazu beitragen, dass Politik und Bürger sich wieder näherkommen. Seine zentrales Anliegen ist: »Ich würde gerne noch mehr Menschen in diesem Land sehen, […] die bewusst und selbstbewusst 370 etwas gestalten wollen und auch mal eine Führungsaufgabe übernehmen.« David Gill beschrieb das mit eigenen Worten. »Er will Deutschland voranbringen und die Menschen für ihr Land begeistern. Er möchte eine Gesellschaft, die sich als Gemeinwesen versteht, und am besten soll sich jeder Einzelne in dieses Gemeinwesen einbringen.«
Wie alle großen Redner besitzt Gauck ein gewisses Maß an Suggestionsfähigkeit, eine Gabe, der er sich sehr wohl bewusst ist. »Ich habe auf meinem Lebensweg erlebt, dass ich Menschen durch meine Art, mit ihnen zu reden, zu ihren Kräften bringen konnte. Es ist mir oft so gegangen, dass Menschen dann auch besser verstanden haben, was sie selber können, und das auch wollen.« Ein anderes Mal drückte er es noch deutlicher aus. »Es ist mir immer gelungen, Menschen zu etwas zu bringen, was sie sonst nicht getan hätten.«
Natürlich sind die rednerischen Fähigkeiten des Bundespräsidenten nicht gottgegeben. Andreas Schulze meinte: »Da ist auch viel Übung dabei, Training, Routine, seine ganze Erfahrung.« Ein rhetorischer Kniff, auf den Gauck regelmäßig zurückgreift, ist, sich scheinbar erstaunt über das große Interesse an seiner Person zu zeigen. Als er 1991 an einer
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