Gauck: Eine Biographie (German Edition)
deutlich mehr belasteten, als er sich das vorgestellt hatte, mehrten sich nach Ablauf des ersten Jahres seiner Amtszeit.
Die Frage ist: Warum hat er sich das aufgebürdet? In seinem Alter und nach all den Schlachten, die er in seinem Leben schon geschlagen hat? Die Antwort liegt in einer bestimmenden Eigenschaft seines Charakters: Joachim Gauck genießt nichts so sehr wie ihm entgegengebrachten Respekt und Anerkennung. Das war die Hauptmotivation für den Zweiundsiebzigjährigen, erneut auf die öffentliche Bühne und ins Rampenlicht zu treten. Der Auftritt als Redner war und ist sein Lebenselixier. Das Bad in der Menge bedeutete Gauck mehr als die Möglichkeit, unerkannt in ein Restaurant gehen zu können. Letztlich war das Thema, das er in den letzten Jahren als Redner besetzt hatte – die Freiheit –, nicht die eigentliche Triebfeder für ihn gewesen, sondern nur Mittel zum Zweck. Das Vehikel, mit dessen Hilfe er zum eigentlichen Ziel gelangte: öffentliche Anerkennung und Bewunderung. Es war Erntedankfest in Gaucks Leben, so hatte er es mehrfach selbst beschrieben, und er wollte die Früchte seiner Lebensarbeit genießen.
Bereits die Berufswahl hatte es angedeutet. Pastor zu sein heißt, sich zu exponieren. Sich vor andere Menschen zu stellen und ihnen den richtigen Weg zu weisen. Schon Mitte der achtziger Jahre hatte er seine Rolle mehr im großen Auftritt gesehen als in der stillen Seelsorge. Als damals der Norddeutsche Rundfunk nach Mecklenburg gekommen war, um einen Film über das Wirken der evangelischen Kirche zu drehen, standen der damalige Landesbischof Heinrich Rathke und Joachim Gauck vor der Kamera. Vor 382 dem Hintergrund der kahlen Plattenbaulandschaft in einem Rostocker Neubaugebiet, die Hände in seine Lederjacke gekrallt, erklärte Gauck stellvertretend für eine Hundertschaft evangelischer Pastoren die Arbeit der Kirche im Sozialismus. Es war kein Zufall, dass er interviewt wurde und nicht einer seiner Amtsbrüder. Genauso wenig wie es ein Zufall war, dass er 1988 auf dem Rostocker Kirchentag die Abschlussrede vor Zehntausenden Gläubigen hielt.
Joachim Gauck wollte diese Einschätzung seiner Motive nicht teilen und wandte dagegen ein: »War da eigentlich gar nichts anderes als eine bestimmte charakterliche Prägung? Pastor in der Diktatur – im atheistischen Umfeld – ist das die beste Möglichkeit ›Anerkennung und Bewunderung‹ zu erlangen? Ist ein jahrzehntelanger Dienst als Pastor nur so zu erklären? Gibt es nicht in dem beschriebenen Mann so etwas wie ein Grundvertrauen – und woher kommt das, außer der Liebe und Zuwendung, die er als Kind erfahren hat? Vielleicht doch aus dem Glauben?«
Und dennoch: Mit den Jahren hatte er es immer besser gelernt, sich instinktsicher in Szene zu setzen. Ein Mittel, das er im ersten Jahr seiner Amtszeit als Bundespräsident des Öfteren einsetzte, war der Besuch von sportlichen Großereignissen. 2012 saß er beim deutschen Fußballpokalfinale in Berlin ebenso auf der Tribüne wie beim Finale der Champions League in München. Er wohnte der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London bei und reiste zu den Paralympics erneut an die Themse. Die Fotos, die Gauck zwischen den jubelnden Spielern des Pokalsiegers 2012, Borussia Dortmund, zeigten, waren aus PR -Sicht genial. Besser kann ein Politiker sich bei einem Sportereignis schlichtweg nicht in Szene setzen.Ein Jahr später war er beim Pokalfinale 2013 wieder im Berliner Olympiastadion und gab in der Halbzeitpause ein Fernsehinterview. »Seine 383 Schwächen waren eine gewisse Selbstgefälligkeit und Eitelkeit«, urteilte sein alter Rostocker Weggefährte Christoph Kleemann, »die ihm mit zunehmendem Alter aber mehr und mehr abhandenkommen.« Das ist ein Eindruck, den viele Beobachter teilen. Trotzdem reagierte Joachim Gauck mit Unverständnis und einer gewissen Bitterkeit auf diese Erwähnung alter Schwächen: »Muss der Zweiundsiebzigjährige wirklich nur noch sein Ego nähren, darf er nicht Werte haben, die ihm zum Engagement veranlassen? Darf er in einer späten Schlüsselposition seines Lebens nicht von sich selber das verlangen, was für ihn die Freiheit ausmacht: Verantwortung. War ich so süchtig, dass ich nach und während all der Anerkennung vor 2012 jetzt die Präsidentschaft auch noch brauchte, um meine Sucht zu befriedigen? Ach!«
47 Unter Siegern
Wie wird es in den nächsten Jahren der Amtszeit des 384 elften Bundespräsidenten weitergehen? Schon als Joachim Gauck im
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