Gauck: Eine Biographie (German Edition)
kam, leugnete man, dass er hier inhaftiert sei.
Erst im September 1953 erfuhr die Familie, dass Gauck 49 senior noch lebte und sich in der Sowjetunion befand. Die DDR -Staatssicherheit teilte es ihr mündlich mit. Kurz darauf meldete sich die Stasi erneut bei Olga Gauck und bedrängte sie, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. »Ihr Mann ist ein Spion.« Die Abgesandten des MfS drohten: »Denken Sie an die Ausbildung Ihrer Kinder.« Denken Sie daran, dass wir in der Hand haben, ob sie das Abitur machen und studieren dürfen, hieß das. Doch Olga Gauck dachte nicht daran, sich scheiden zu lassen. Der elfjährige Joachim betete damals jeden Abend für den Vater. Später erklärte er das: »Unsere Familie war nicht sonderlich religiös, schlicht norddeutsch-protestantisch, tägliche Gebete gehörten keineswegs zu unserer Gewohnheit. Aber ich zwang mich, jeden Abend in meinem Kinderzimmer an den Abwesenden zu denken.« Olga Gauck litt damals oft unter schwerer Migräne, die Anfälle waren so stark, dass sie sich dann hinlegen musste. Früher hatten ihre Kinder sie nie weinen sehen. Jetzt konnte sie ihre Traurigkeit nicht mehr vor ihnen verbergen. Unvermutet liefen ihr oft die Tränen über die Wangen. Der Druck auf Joachim und seine älteste Schwester Marianne, sich mit der trauernden Mutter zu solidarisieren, war enorm.
Olga Gauck verarbeitete das erlittene Unrecht, indem sie ihre Kinder fortan in strenger Opposition zum Arbeiter-und-Bauern-Staat erzog. Die Welt der Kommunisten, die in der DDR die Macht ergriffen hatten, war ohnehin nicht ihre Welt. Dass ihr dieser Staat aber auch noch den Ehemann weggenommen hatte, war für sie unverzeihlich. Joachim und seine Geschwister durften weder zu den Jungen Pionieren gehen noch in die Freie Deutsche Jugend ( FDJ ) eintreten. Die beiden Jugendorganisationen der SED waren elementare Bausteine des Erziehungssystems der DDR . Der soziale Druck, diesen Gruppierungen beizutre 50 ten, war groß. Wer nicht mitmachte, war ein Außenseiter und bekam das in der Schule zu spüren. Ab den sechziger Jahren waren darum fast alle Schüler zunächst bei den Jung- oder Thälmannpionieren und ab der achten Klasse in der FDJ . Nicht aber die Gauck-Kinder. Da kannte ihre Mutter keine Kompromisse. Als Joachim eines Tages mit einem sehr guten Zeugnis aus der Grundschule nach Hause kam und voller Stolz das »Abzeichen für gutes Wissen« trug, bekam er von seiner Mutter eine Ohrfeige. Sie hatte die Plakette mit dem Emblem der Jungen Pioniere verwechselt und glaubte, ihr Ältester sei dort heimlich beigetreten.
Ähnlich erging es seiner jüngsten Schwester Sabine. Das eigensinnige Mädchen war trotz Verbots zu einer Weihnachtsfeier der Jungen Pioniere gegangen, »weil es da so schöne Weihnachtsgeschenke gab«. Als sie mit ihrem Präsent nach Hause kam, riss eine Tante es ihr aus den Händen, warf es auf den Boden und trampelte wütend darauf herum. »Dein Vater sitzt in Sibirien und du gehst zum Pioniernachmittag«, herrschte sie ihre Nichte an. Erziehung mit der Brechstange. Sabine war nach eigener Wahrnehmung »die Einzige in der ganzen Schule«, die nicht zu den Jungen Pionieren ging. Immer wieder wurde sie dazu gedrängt: »Wann trittst du ein?« Mutter Olga stemmte sich unerbittlich dagegen: »Sag ihnen, sie können wieder nachfragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist.« Danach wurde Sabine nicht mehr gefragt. Kamen Besucher aus dem Westen zu den Gaucks, war für Sabine Schuleschwänzen angesagt. »Du bleibst zu Hause, hier lernst und hörst du mehr«, sagte ihre Mutter dann zu ihr. Man kann diese aus der Verzweiflung geborene Haltung Olga Gaucks verstehen. Trotzdem: Sie drängte Joachim und seine Geschwister damit in die Opposition und in Außenseiterrollen. Dass das nicht der Natur ihres harmoniebedürftigen Ältesten entsprach, darauf 51 konnte und wollte sie keine Rücksicht nehmen. Probleme in der Schule waren für ihre Kinder so vorprogrammiert. Das machte ihr ohnehin nicht einfaches Los noch schwerer. Joachim Gauck schrieb dazu in seinen Memoiren: »Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen
Weitere Kostenlose Bücher