Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Märchenbücher las, hinterfragte er bereits, was er las. Er nahm das nicht einfach nur auf, sondern analysierte es auch.« 54
Onkel Gerhard
Eine wichtige Bezugsperson in den Nachkriegsjahren für die Familie Gauck, insbesondere für Joachim, war sein Onkel Gerhard Schmitt, der Mann seiner Tante Gerda, die zugleich seine Taufpatin war. Die Familien Gauck und Schmitt waren jahrzehntelang eng miteinander verbunden. Die beiden fast gleichaltrigen Cousins, Gerhard Schmitt junior und Joachim Gauck junior, hatten schon als Kleinkinder zusammen gespielt. Später besuchten sie sich regelmäßig gegenseitig, als die Schmitts in Güstrow wohnten, wo Vater Gerhard als Pastor und später Landessuperintendent arbeitete. Joachim Gaucks jüngere Geschwister, Eckart und Sabine, verbrachten ihre Schulferien regelmäßig bei Onkel Gerhard und Tante Gerda. »Da waren wir oft«, erinnerte sich Sabine, »die hatten ein großes Haus, in dem wir Ferien gemacht haben. Das war die große Freiheit.« Mitte der sechziger Jahre war Gerhard Schmitt maßgeblich daran beteiligt, dass die schwangere Sabine zum Vater ihres Kindes in die Bundesrepublik ausreisen durfte. Mittlerweile zum Generalsuperintendenten in Ost-Berlin aufgestiegen, vergleichbar mit einem Bischof, hatte Schmitt veranlasst, dass seine Nichte auf eine Ausreiseliste der evangelischen Kirche gesetzt worden war.
Gaucks anderer Cousin, Jörn-Michael Schmitt, erinnerte sich, dass seine Eltern der Familie Gauck nach dem Krieg wirtschaftlich jahrelang unter die Arme gegriffen hätten, vor allem nach der Verschleppung von Gauck senior. Auch später, als die Schmitts das Rentenalter erreicht und 1978 in den Westen gegangen waren, unterstützten sie die Gaucks.
Über das Verhältnis von Joachim Gauck zu seinem Patenonkel urteilte Gaucks Schwester Sabine: »Jochen und Onkel Gerhard, das war was Besonderes.« Jörn-Michael Schmitt 55 meinte sogar, dass sein Vater für seinen Cousin Joachim »die Richtschnur seines Lebens« gewesen sei. Dieses Urteil dürfte zu weit gehen, auch wenn Joachim Gauck bei wichtigen Lebensentscheidungen in seiner Jugend mehrfach den Rat und die Hilfe seines Onkels suchte. Als er nach dem Abitur vor der Frage stand, was er studieren sollte, riet ihm Gerhard Schmitt zur Theologie. Jörn-Michael Schmitt war sich sicher: »Mein Vater war es, der ihn davon überzeugt hat, Theologie zu studieren. Ich erinnere mich noch sehr gut an das stundenlange Gespräch, als es um seine Berufswahl ging.« Gerhard Schmitt senior war nicht nur Ratgeber für seinen Neffen, sondern traute 1959 Joachim und seine Frau Hansi. Ein Jahr später, als der erste Sohn des Paares, Christian, zur Welt kam, taufte er den Jungen.
Die politische Haltung des Onkels beeindruckte den Neffen und prägte, neben dem Vorbild der Eltern, seine politische Einstellung zum DDR -System mit. Schmitt war ein Gegner der SED -Herrschaft und demonstrierte diese Haltung in einer Mischung aus Mut und Trotz immer wieder öffentlich. Bei seinen Predigten in Güstrow scheute er sich nicht vor offenen Worten der Kritik am SED -Staat. Bei den Volkskammerwahlen im Oktober 1950 machte er vor aller Augen seinen Wahlzettel ungültig. Auch später nahm er nie an einer Volkskammerwahl teil, trotz der Propaganda und des Drucks der SED auf die DDR -Bevölkerung, sich an Wahlen zu beteiligen.
Joachim Gauck blieb seinem Onkel und seiner Tante verbunden, so lange sie lebten. Er besuchte sie regelmäßig an ihren Geburtstagen und hielt 1988 die Predigt anlässlich ihrer goldenen Hochzeit. Als Gerhard Schmitt im Jahr 2000 starb, setzte sein Neffe Joachim bei der Beerdigung ein letztes Zeichen der Verbundenheit. Während des Begräbnisses auf dem Friedhof in Berlin-Nikolassee machte der Altbi 56 schof, Albrecht Schönherr, Anstalten, ans offene Grab zu treten und eine Rede zu halten. Das missfiel Gauck derartig, dass er diese Ansprache verhinderte. Schönherr war ein Vertreter der Formel »Kirche im Sozialismus« gewesen, nach der sich die Kirche in der DDR in gewissem Umfang dem Führungsanspruch der SED unterordnete, um selbst wirksam bleiben zu können. Gerhard Schmitt hatte demgegenüber immer für die größtmögliche Distanz der Kirche zum sozialistischen Staat plädiert. Dessen gleichnamiger Sohn erinnerte sich, dass Joachim Gauck ihm damals bei der Beerdigung zugeraunt habe: »Das hat dein Vater nun wirklich nicht verdient. Du kommst von links, ich komme von rechts, dann drängen wir den ab.« Gesagt, getan, die beiden
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