Gauck: Eine Biographie (German Edition)
beschreibt 43 eine Geschichte, die Joachim Gauck in seinen Erinnerungen erzählt: Im damaligen Winter war sein einziges Paar Schuhe endgültig zerschlissen. Einige Tage lang konnte er deshalb nicht zur Schule gehen und war darüber todunglücklich. Als er zu Weihnachten von Verwandten aus Amerika ein paar neue Stiefel geschenkt bekam, »zwei Nummern zu groß, aber aus herrlichem braunem Leder«, war seine Freude grenzenlos. 44
Abgeholt
Dann gehst du ja die ganze Zeit zur Schule, du lernst da ihre Lieder vom Sozialismus und ›Bau auf, bau auf. Freie Deutsche Jugend, bau auf‹ und du lernst, dass bei uns die glücklichen Menschen den Sozialismus errichten und im Westen sitzen die Bösen, also die Faschisten, und bei uns die Guten, die Sieger der Geschichte. Du hörst das alles, du lernst ihre Lieder und du weißt, sie lügen.
Joachim Gauck
Stalins Opfer
Es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, die sind so einschneidend, dass sie den Betreffenden für sein ganzes Leben prägen und sein weiteres Schicksal bestimmen. Die entscheidende Prägung seiner Kindheit erfuhr Joachim Gauck im Alter von elf Jahren. Es war die Verhaftung und Verschleppung seines Vaters in den Gulag im Sommer 1951. Man muss das Schicksal von Gauck senior kennen, um die Unerbittlichkeit des Sohnes zu verstehen, wenn es um die Beurteilung der DDR und die Führungselite der SED geht. Das unerklärliche Verschwinden des Familienoberhaupts schlug in seiner Familie Wunden, die nur schlecht verheilten. Gaucks Schwester Marianne ist bis heute spürbar bewegt, wenn sie über das damalige Geschehen erzählt: »Das packt mich an.« Auch Joachim Gauck wurde durch die Verschleppung des Vaters tief getroffen. Nach eigener Einschätzung war dieses Ereignis der Ausgangspunkt einer »elementaren Politisierung«, die er als Jugendlicher durchlief. 45
Seine Einstellung zur DDR und zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die in der DDR nahezu über die alleinige Macht im Staat verfügte, seine Sehnsucht nach Freiheit und seine Unversöhnlichkeit gegenüber denen, die den Arbeiter- und Bauernstaat im Nachhinein idealisieren, das alles hat seinen Ursprung hier. Joachim Gauck lernte wie alle Kinder in der DDR schon früh, was man in der Schule sagen darf und was nicht. Dass man Nachteile hatte, wenn man zu offensichtlich von der politisch geforderten Linie abwich. Und doch konnte er sich manchmal kaum beherrschen, wenn er an das Verschwinden seines Vaters dachte. In seinen Memoiren schrieb er dazu: »Ich habe Vaters Schicksal nie verheimlicht. Schweigen wäre mir wie Verrat vorgekommen. Mitunter habe ich auf sein Schicksal sogar anklagend verwiesen. Wenn in den Schulstunden Lieder und Parolen allzu verlogen waren oder die angeblichen Aufbauleistungen des Sozialismus gefeiert wurden […] dann wurden Wut und Empörung in mir übermächtig. Ein oder zwei Mal verlor ich sogar die Beherrschung, wollte nicht mehr argumentieren, sondern nur nach anklagen: ›Alles Lüge!‹«
Rostock, 27. Juni 1951. Joachim Gaucks Großmutter Antonie feiert ihren einundsiebzigsten Geburtstag. Gaucks Vater ist aus diesem Anlass zusammen mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter, der 1947 geborenen Sabine, zu seiner Mutter nach Wustrow gefahren. Antonie Gauck lebt dort in einer einfachen Zweizimmerwohnung mit Plumpsklo auf dem Hof zur Miete. Ihr eigenes »Haus am Deich« ist inzwischen zwangsweise an einen staatlichen Großbetrieb in Magdeburg verpachtet worden, der Antonie eine lächerlich geringe Miete für die Nutzung bezahlt.
Überraschend tauchen zwei ganz in Schwarz gekleidete Männer bei Antonie Gauck auf. Sie bitten ihren Sohn, mit 46 ihnen zu kommen. »Sie müssen uns helfen. Auf der Rostocker Neptunwerft hat es einen schweren Unfall mit einem Verletzten gegeben.« Der Familienvater war misstrauisch. Zwar hat das irgendwie Sinn, er arbeitet ja als Arbeitsschutzinspektor auf der Werft, aber das Verhalten der beiden Männer kommt ihm merkwürdig vor. Gauck senior weiß von den vielen Verhaftungen und dem plötzlichen Verschwinden von Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR . Etwa fünfunddreißigtausend deutsche Zivilsten werden zwischen 1945 und 1955 verhaftet und von sowjetischen Militärtribunalen abgeurteilt. Ganz überwiegend handelt es sich um hilflose Opfer der Willkürjustiz der sowjetischen Sieger. Sozialdemokraten, die gegen die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im Jahr 1946 protestieren. Normale Bürger, die sich gegen die
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