Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Bewusstsein: Wir sind die Anständigen.«
Ohne Ernährer
Die Verschleppung des Vaters änderte die Lebensumstände der Familie radikal. Die Erziehung hing wieder, wie schon während des Krieges, allein an der Mutter. Doch jetzt war das Gehalt des Vaters weggefallen und zwei zusätzliche Kinder mussten durchgebracht werden. Die staatliche Unterstützung, die die Familie erhielt, reichte hinten und vorne nicht. Dazu war die Wirtschaftslage schlechter, als sie es während des Dritten Reichs je gewesen war. Joachim Gauck beschrieb die damaligen Lebensumstände seiner Familie ungeschönt: »Wir waren bettelarm.« Sein Cousin, Jörn-Michael Schmitt, fügte zu diesem Bild hinzu: »Die Not, die nach der Verhaftung des Vaters einsetzte, war entsetzlich. Die Hilfe, die andere damals leisteten, war enorm, mehr noch, lebensrettend.«
»Olli«, wie die Mutter genannt wurde, stand frühmorgens auf, wenn die Kinder noch schliefen, und erledigte den Haushalt, bevor sie zur Arbeit ging. Notgedrungen hatte 52 sie eine Stellung als Sekretärin und Sachbearbeiterin in einem nahe gelegenen volkseigenen Großhandelsbetrieb für Lederwaren angenommen. Obwohl sie bis zum Umfallen arbeitete, um ihre Familie durchzubringen, wäre sie ohne die Hilfe ihrer Familie und Freunde vermutlich gescheitert. Bei den alten Freundinnen in Wustrow konnte sie ihre Kinder in den Schulferien unterbringen, um einmal durchzuatmen. Genauso willkommen waren Joachim und seine Geschwister im Haus von Olgas Schwester Gerda und deren Mann Gerhard Schmitt. Immer Verlass war auch auf ihren Bruder Walter und dessen Frau Hilde, die in Brinckmansdorf quasi um die Ecke vom Haus der Großeltern Warremann wohnten. Sie passten auf die beiden kleineren Kinder, Eckart und Sabine, auf, wenn ihre Mutter zur Arbeit ging. Und natürlich halfen auch Olgas Eltern mit, wo sie konnten.
Sabine Pannwitz erinnerte sich: »Meine Mutter war eine ehrgeizige Frau und die Person in der Familie, die alles organisierte und schaffte. Es war mir als Kind oft peinlich, mit welcher Energie sie sich beispielsweise beim Einkaufen durchsetzte. Oft war sie aber auch am Ende ihrer Kraft.« Ihrem Bruder Joachim blieben andere Eindrücke von der Mutter im Gedächtnis haften: »Sie redete viel mit uns Kindern, war nicht übertrieben streng, allerdings auch wenig zärtlich. Sie war immer für uns da und verteidigte uns wie eine Löwin.« Wie es oft ist, sind die eigenen Kinder beim Urteil über die Eltern strenger als Dritte. Sibylle Hammer, eine langjährige Freundin der Familie, die mit Gaucks Schwester Sabine in die Schule gegangen war und später Patentante von Gaucks 1967 geborener Tochter Gesine wurde, vertrat zum Beispiel die Meinung, Olga Gauck sei eine »sehr zugewandte, warmherzige und mütterliche Frau« gewesen, »die aus ihrer politischen Haltung in Bezug auf 53 das sozialistische System der DDR und ihren Auffassungen zum SED -Staat nie einen Hehl machte«.
Natürlich mussten die vier Gauck-Kinder der Mutter im Haushalt helfen, wobei die klassische Rollenverteilung galt. Die Jungen waren dafür zuständig, Kohle heranzuschleppen, die Asche aus dem Haus zu tragen und mittels einer Pumpe das Abwasser aus dem Haus zu schaffen. Die Mädchen hatten in der Küche und beim Putzen zu helfen. Joachim war insbesondere für das Einkaufen zuständig. Seine Mutter drückte ihm Geld und die wertvollen Lebensmittelkarten in die Hand, mit denen bestimmte, in der Nachkriegszeit rationierte Lebensmittel bezogen werden konnten. Fast immer zog er barfuß los, meist die kleine Schwester Marianne im Schlepptau. Die sah sich in ihrer Erinnerung ständig hinter ihrem großen Bruder »her tapern«, wenn der im Auftrag der Mutter Erledigungen machte.
Die Rolle des jetzt elfjährigen Joachim verschob sich nach dem Verschwinden des Vaters. Er avancierte zum Vertrauten und wichtigsten Gesprächspartner der Mutter, der den Vater an der einen oder anderen Stelle ersetzen musste. So wurde er zunehmend bei Entscheidungen, die die ganze Familie betrafen, von Olga zu Rate gezogen. Seine Schwester Marianne registrierte: »Mutter und Jochen standen sich besonders nahe, sie hat ihm sehr vertraut.« Joachim konnte von da an nicht mehr nur noch ausschließlich Kind sein, sondern ihm wurden Lasten auf die Kinderschultern geladen, die üblicherweise von Erwachsenen getragen werden. Nach der Erinnerung von Gaucks Schwester ließ die zusätzliche Verantwortung ihren Bruder früh reifen: »Jochen wurde ernster. Während ich noch
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