Gauck: Eine Biographie (German Edition)
kirchliche Unterricht fand in einer Garage in derselben Straße statt, in der die Familie Gauck wohnte. Wie in der Schule saßen Joachim und seine Ge 59 schwister auch hier auf Holzbänken, um einmal in der Woche einem kirchlichen Mitarbeiter zuzuhören, der ihnen die unsterblichen Geschichten aus der Bibel näherbrachte. Joachim war laut seinen Erinnerungen begeistert, wenn er etwas »von wunderbaren Dingen und rätselhaften Fernen« erzählt bekam. »Ich hörte fremde Namen wie Esau und Moses, hörte von der Schlange im Paradies, von Jerusalem, der Stadt auf dem Berg.« Auch wenn ihm das damals natürlich nicht bewusst war: Hier wurde das Fundament dafür gelegt, dass Gauck später den Weg zur Theologie und zum Beruf des Pastors fand.
Mitte der fünfziger Jahre ging Joachim Gauck den beschrittenen Weg vom Konfirmandenunterricht weiter zur Jungen Gemeinde. Das war die Form, mit der die evangelischen Kirchen in der DDR die Jugendlichen ansprachen. Die von der Jungen Gemeinde organisierten Jugendstunden und Veranstaltungen waren speziell für die Heranwachsenden konzipiert und wurden in einer die Jugend ansprechenden Form durchgeführt. Was den Oberschüler faszinierte, war, dass hier nicht nur über Religion gesprochen, sondern auch über Politik und den Sinn des Lebens philosophiert wurde. Der Fünfzehnjährige fand Zugang zu neuer Literatur, die seinen Intellekt anregte, und traf auf Menschen, mit denen er offen reden und denen er vertrauen konnte. Eine von vielen wichtigen Erfahrung, die er machte: In dieser Gemeinschaft Gleichgesinnter war er mit seiner Ablehnung des SED -Staats nicht allein. Er hatte damit den »geschützten Raum Kirche«, betreten, wie er und viele andere ihn nannten und schätzten. Erst 1990, während der friedlichen Revolution in der DDR , sollte er ihn wieder verlassen.
Angesichts der staatlichen Haltung gegenüber den Christen in der DDR war es keinesfalls eine Selbstverständlich 60 keit, sondern die Ausnahme, dass ein Jugendlicher zur Jungen Gemeinde ging. Nur eine Minderheit hatte den dazugehörigen Mut und besaß die innere Unabhängigkeit, um sich im Widerspruch zur offiziellen Propaganda der SED für die Kirche zu entscheiden. Joachim Gauck verfügte aufgrund des Schicksals seines Vaters und der daraus resultierenden Erziehung durch seine Mutter über beides.
Der SED waren die Kirchen in ihrem Land von Beginn an ein Dorn im Auge gewesen. Nach dem Verständnis der Staatspartei war Religion ein überflüssiges Relikt aus einer untergegangenen Epoche. Für die Sozialisten gab es nur eine »Weltanschauung«, und darin war für die Kirchen kein Platz. Darum machten sich die Machthaber der DDR ab den fünfziger Jahren mit brachialer Gewalt ans Werk, die gesellschaftlichen Wurzeln der Kirchen zu kappen.
Traditionelle kirchliche Rituale wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung versuchte die SED zurückzudrängen, indem der Staat für diese prägenden Momente im menschlichen Leben eigene staatliche Zeremonien und Identifikationsmöglichkeiten anbot. Der entscheidende Hebel der SED , um den Einfluss der Kirchen auf die Gesellschaft langfristig zu unterbinden, war das Erziehungssystem. Schon 1946, während der sowjetischen Besatzung und drei Jahre vor der Staatsgründung, war der Religionsunterricht als eigenes Fach in den Schulen abgeschafft worden. Die Unterrichtung von Jugendlichen durch kirchliche Mitarbeiter in Schulräumen blieb formalrechtlich zulässig, wurde aber praktisch stark behindert. Nach dem Scheitern von Stalins gesamtdeutschen Plänen 1952 verkündeten die Machthaber offiziell den »Aufbau des Sozialismus« in der DDR . Das ging einher mit neuen Angriffen auf die Kirchen, auch dem Versuch, die Jungen Gemeinden komplett aus dem öffentlichen Leben verschwinden zu lassen. Das 61 Politbüro der SED erklärte sie zu diesem Zweck kurzerhand zu einer Spionageorganisation der USA . »Schändlicher Missbrauch mit dem christlichen Glauben« würde dort »unter religiöser Maske« betrieben, verkündeten die SED -gelenkten Medien. Auf massenhaft organisierten Veranstaltungen an Schulen und Universitäten wurde massiver Druck auf Jugendliche und junge Erwachsene ausgeübt, sich von der Jungen Gemeinde loszusagen. Wer sich weigerte, riskierte aus der Oberschule oder der Universität geworfen zu werden.
11 Der Schüler im Alter von etwa zwölf Jahren
Ihr eigentliches Ziel, die Jugendarbeit der Kirchen völlig zu unterbinden, erreichten die Machthaber dennoch nicht. Es
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