Gauck: Eine Biographie (German Edition)
war, völlig: »Im Laufe weniger Monate spürte ich, dass ich quasi leistungsunfähig geworden war.« Zur chronischen Lernunwilligkeit gesellte sich die Perspektivlosigkeit. Wie sollte er in der Zukunft seine Familie ernähren? Dass er einmal Pastor werden könnte, zog er nach wie vor nicht ernsthaft in Betracht. Und noch 87 etwas nagte an ihm. Seine Frau Hansi arbeitete als Buchhändlerin in der Universitätsbuchhandlung und verdiente mit dreihundertfünfzig Mark brutto im Monat den Löwenanteil des Familieneinkommens. Joachim steuerte nur ein Stipendium von hundertvierzig Mark bei. Dazu jobbte er nebenbei. Schon als Oberschüler hatte er sich in der Warnow-Werft in Warnemünde wie viele andere Schüler auch ein zusätzliches Taschengeld verdient. Heroisch erinnerte er sich daran, wie er später als Student einmal im Rostocker Hafen geschuftet habe, »bis sich die Haut von den Händen löste«. Natürlich verursachte es ihm ein schlechtes Gewissen, wenn seine Frau, eines der Kinder auf dem Arm, ihn wieder einmal fragte, wie es denn nun mit seinem Examen stehe. So hatte er sich seine Rolle als Familienoberhaupt nicht vorgestellt.
Gaucks Eltern, die um die Ecke wohnten, unterstützten ihren Sohn, indem sie auf die Enkel aufpassten, wenn er und seine Frau beschäftigt waren. Olga Gauck, die gelernte Bürokauffrau, saß mehr als einmal mit hochrotem Kopf an ihrer Schreibmaschine, um im Eiltempo eine Seminararbeit für ihren Ältesten zu tippen, wenn der mit der Aufgabe, diese rechtzeitig abzuliefern, wieder einmal überfordert war. »Sie hat ihm ständig geholfen«, erinnerte sich eine Freundin der Familie, »schweißgebadet saß sie da. ›Ich muss das für Jochen machen, der schafft das sonst wieder nicht.‹«
Ein damaliger Universitätsassistent erinnerte sich, dass Gauck »größte Probleme« beim Übersetzen lateinischer Texte gehabt habe. »Er hat sich dann was zusammengereimt. Wir waren uns damals alle darüber einig, dass er ein schlechter Student war. Er war sicher nicht dumm, sondern wirkte eher unbeteiligt und gleichgültig.« Je länger sich sein Studium hinzog, ohne dass das Examen auch nur in Sichtweite war, desto höher wurde der Erfolgsdruck. Seine Um 88 welt begann zu drängen. »Es hat gedauert und gedauert«, wunderte sich Marianne Gauck noch fünfzig Jahre später. Gaucks Cousin, Jörn-Michael Schmitt, formulierte es drastischer: »Er war intelligent, aber sehr faul.«
Mehr und mehr verlor der Student den Glauben an sich und seine Fähigkeiten. »Ich dachte, ich schaffe es nicht mehr. Ich war fast davon überzeugt, dass ich 'ne Macke habe.« Mitte 1963, im zehnten Semester, stand das Studium auf der Kippe, als ihm der Zufall zu Hilfe kam. Ihm fiel zu Hause die Bodenklappe auf den Schädel, was eine leichte Gehirnerschütterung verursachte. Der Schlag auf den Kopf kam wie gerufen, um aus gesundheitlichen Gründen um eine Studienverlängerung zu bitten. Wieder einmal stand in dieser Phase Gaucks Onkel Gerhard Schmitt hilfreich zur Seite, der für seinen Neffen einen Beihilfezuschuss in Höhe von vierhundert Mark von der Landeskirche organisierte. Gauck dankte ihm überschwänglich. »Lieber, Hochwürdiger Onkel! Gestern ging mir ein Scheck über 400 DM zu. Du wirst Dir denken können, dass das Geld eine große Hilfe für uns bedeutet und so will ich nicht versäumen, auch Dir herzlich zu danken, denn Du warst ja der Initiator der ganzen Sache.« Bald beantragte Joachim Gauck, sein Examen erneut verschieben zu dürfen. Es erschien ihm wie ein unüberwindbarer Berg.
Diesmal stimmte der Dekan nur unter der Maßgabe zu, dass der Student ein ärztliches Attest vorlegte, in dem die Notwendigkeit eines weiteren Aufschubs begründet und befürwortet wurde. Ab dem 1. Juni 1964, inzwischen in einer ernsthaften Lebenskrise, ließ sich der Theologiestudent mehrere Monate lang in der Nervenklinik der Universität Rostock ambulant behandeln. Sein psychischer Zustand war nicht unbedenklich. Die Ärzte verschrieben dem Studenten Psychopharmaka, um »die gewissen nervösen 89 Begleitsymptome abzufangen«. Am 9. Oktober diagnostizierte der behandelnde Arzt beim stets nervösen Patienten, der seit Studienanfang Schwierigkeiten hatte, »sich den nötigen Lernzwang aufzuerlegen«, eine »abnorme Persönlichkeit«. In dem Untersuchungsbefund hieß es: »Solche Persönlichkeiten haben es erfahrungsgemäß […] schwerer als ein völlig Gesunder, den gewünschten Anforderungen in Beruf und Gesellschaft zu entsprechen.
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