Gauck: Eine Biographie (German Edition)
geheiratet, das war normal. Viele junge Leute schlossen Ehen, weil sie damit wenigstens die Chance auf eine eigene Wohnung bekamen und sich so von der räumlichen Enge und den emo 80 tionalen Bindungen in der elterlichen Wohnung lösen konnten. Tatsächlich kam Gauck senior mit der introvertierten jungen Frau nicht zurecht: »Mit der Deern kann ich wirklich nicht«, polterte er und drohte damit, nicht zur Hochzeit zu erscheinen. Marianne Gauck merkte dazu an, dass ihr Vater im Hinblick auf die Partnerwahl seiner Kinder ausnahmslos Bedenken angemeldet habe.
Auch die Geschwister von Joachim Gauck waren zu Beginn irritiert über die Freundin des Bruders. Sie konnten sich nicht erklären, warum Hansi bei ihren Gesprächen meist schweigend in der Runde saß und im Vergleich zu ihnen so zurückhaltend und introvertiert wirkte. Außerdem konnte die junge Frau weder schwimmen noch Rad fahren und war damit ein glatter Gegenpol zu den Gauck-Kindern. Marianne und Sabine gingen in die Sportschule und Joachim stand in der Fußballmannschaft seiner Schule im Tor. Zu diesem Zeitpunkt ahnte keiner von ihnen etwas von der tragischen Kindheit des Mädchens. Die Familie Radtke war zunächst aus Ostpreußen nach Böhmen evakuiert worden. Gegen Kriegsende musste sie erneut fliehen, als die Tschechen sie aus ihrem Exil in Böhmen vertrieben. Auf der Flucht verhungerte Hansis im Februar 1945 geborene Schwester Bruni. In Prag wurde der Treck von aufgebrachten Tschechen beschimpft, die Flüchtlinge wurden geschlagen, mit Steinen beworfen und ihr Gepäck in die Moldau geworfen.
Mit nichts als dem, was sie am Körper trugen, kamen sie in Warnemünde an, Habenichtse, auf die Hilfe anderer angewiesen. Mehr als fünfhunderttausend »Umsiedler«, wie sie in der DDR genannt wurden, kamen damals aus den deutschen Gebieten östlich der Oder nach Mecklenburg. Die Einwohnerzahl stieg von 1,2 Millionen auf mehr als zwei Millionen. Keine andere Region in Deutschland 81 musste im Verhältnis zur vorhandenen Bevölkerung mehr Flüchtlinge und Vertriebene aufnehmen. Die konservativen Mecklenburger fühlten sich bedroht durch die Scharen von Flüchtlingen und begegneten ihnen oftmals geradezu feindselig.
Hansi und ihre Mutter wurden bei einer »hartherzigen Witwe« untergebracht, wie Joachim Gauck in seinen Erinnerungen berichtete. Die Mutter wurde nie heimisch an der Ostsee. 1950 setzte sie in die Tat um, was sie schon lange angekündigt hatte, im Alter von dreißig Jahren brachte sie sich um. Ihre zehnjährige Tochter fand die Mutter tot, als sie von der Schule nach Hause kam. Der Vater, der noch einmal heiratete und mit seiner neuen Frau zwei weitere Kinder zeugte, reagierte auf das Erlebte, indem er seine Tochter extrem streng und übervorsichtig erzog. All das hinterließ Spuren in der Kinderseele. Hansi Gauck wurde ein unsicheres, introvertiertes und verschlossenes Mädchen.
Anders als seine Eltern bestärkte Joachims Onkel, Gerhard Schmitt, seinen Neffen und Hansi in ihrem Entschluss zu heiraten. Als Joachim Gauck seinen Patenonkel bat, ihn und Hansi zu trauen, erklärte der sich dazu ohne Zögern bereit. Die Hochzeit fand am 22. August 1959 in der Rostocker Klosterkirche statt. Es war kein großes Fest, die finanziellen Möglichkeiten der Radtkes und Gaucks waren begrenzt. Gauck senior erschien dann natürlich doch zur Hochzeit seines Sohnes. Nach der anfänglichen Ablehnung entwickelte sich ein gutes Verhältnis zwischen den Eltern von Joachim und seiner Frau, wie diese beteuerte: »Meine Schwiegereltern waren für mich unheimlich wichtig. Sie waren bis zu ihrem Tod mein Elternhaus. Es war toll für mich und meine Kinder, dass es diese beiden Menschen gab. Wir waren oft bei ihnen zu Besuch.«
17 Mit seiner Tochter Gesine 1967
Schon im Jahr nach der Hochzeit, im Oktober 1960, kam 82 Christian, das Erste der vier Kinder von Joachim und Hansi Gauck zur Welt. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, was sich auf bemerkenswerte Art bis heute nicht verändert hat. Wieder war Gerhard Schmitt als Pastor zur Stelle und taufte das Kind. Das junge Paar hatte Glück. 83 Gerade als die Frage nach der eigenen Wohnung wegen des ersten Kindes wirklich zu drängen begann, wurde im Souterrain des Hauses der Warremanns in Rostock-Brinckmansdorf überraschend ein Zimmer frei. Der damalige Untermieter hatte sich im Sommer 1960 in den Westen abgesetzt. Die jungen Leute, die nach ihrer Hochzeit jeweils weiter bei ihren Eltern gewohnt hatten, nutzten
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