Gauck: Eine Biographie (German Edition)
einer großen Altbauwohnung in der Uhlandstraße.
Schmitts Eltern waren über die Entscheidung ihres Sohnes, die DDR zu verlassen, und seinen sittenlosen Lebenswandel entsetzt. Joachim Gauck dagegen war fasziniert vom libertinären Milieu rund um die Wohngemeinschaft 92 seines Cousins. Der Kontrast zwischen seinem Leben in der Provinzstadt Rostock mit ihren zweihunderttausend Einwohnern und dem seines Cousins in der Millionenmetropole Berlin konnte nicht größer sein. Hier ein verheirateter Theologiestudent, der mit seiner Frau einen Kellerraum im Haus seiner Großmutter bewohnte. Dort ein Musikstudent, der unverheiratet mit seiner Freundin zusammenlebte und in der freigeistigen und freizügigen West-Berliner Studentenszene verkehrte. »Mensch, Musik müsste man können«, rief Gauck einmal, ein bisschen neidisch, bei einem Besuch in der Uhlandstraße aus.
Abends ging er mit seinem Cousin Gerhard in dessen Stammkneipe um die Ecke, wo die Musikstudenten saßen und klönten. Sie besuchten gemeinsam Konzerte oder gingen in die berühmte Jazz-Kneipe Eierschale. »Wir hatten nicht viel Geld und konnten nicht oft essen gehen«, erinnerte sich Gerhard Schmitt, »aber das Bier kostete damals dreißig Pfennige, das konnten wir uns leisten. Außerdem ging Joachim furchtbar gerne ins Kino. Da hatte er einen Nachholbedarf.«
Besonders fasziniert war der Rostocker Theologiestudent von der Freundin seines Cousins, Jutta, einer Schwägerin des Schriftstellers Uwe Johnson. Gauck widmete der Germanistikstudentin in seinen Erinnerungen Jahrzehnte später zwei Seiten: »Gerhards Freundin Jutta war eine dunkelhaarige, eher zarte Frau, auf eine aufregende und etwas dunkle Weise verführerisch – jedenfalls für den jungen Theologiestudenten aus der Provinz. Wäre ich damals nicht bereits in festen Händen gewesen, hätte diese Mischung aus weltläufigem Laisser-faire, geistiger Freiheit und einer gewissen Libertinage eine Versuchung darstellen können.« Gerhard Schmitt erinnerte sich: »Er hat sie sehr verehrt und ist gerne mit ihr um die Häuser gezogen. Sie 93 war allerdings strohblond und nicht dunkelhaarig, wie er schreibt.«
War es wirklich das Bohemehafte an der jungen Frau, das Gauck anzog? Oder waren es die Schwermut und das Problemhafte in ihrem Wesen, was damals noch nicht so zutage getreten war wie später? »Jutta war eine schwierige Frau«, erklärte ihr Ex-Freund Gerhard Schmitt später, »zeitweilig ging sie auf der Straße immer nur ganz eng an den Häuserwänden entlang.« Sie starb 1968 bei einem Schwelbrand, als sie mit einer Zigarette im Mund im Bett einschlief.
Der Bau der Mauer
Sosehr Joachim Gauck West-Berlin liebte, so sehr hasste Walter Ulbricht die halbe, westdeutsche Stadt im Herzen der DDR , die eine so magische Anziehungskraft auf die DDR -Bürger ausübte. Der Diktator empörte sich über den Westteil der Stadt als »Eiterbeule, die junge Menschen systematisch durch Filme verseucht, die Mord und andere Schwerverbrechen lehren«. Wo Gauck Freiheit spürte, ortete Ulbricht einen »Tummelplatz der Kriegstreiber und Kriegsinteressierten«, ein »Paradies der Menschenhändler, Spione und Diversanten«. Es sei Absicht der Bundesrepublik, giftete der SED -Chef wütend, »mit dem Berliner Frontstadtsumpf die ganze Demokratische Republik zu verpesten«. Ulbrichts Wut hatte ihren Grund. In den fünfziger Jahren hatten mehr als 2,2 Millionen DDR -Bürger ihrer Heimat für immer den Rücken gekehrt. Drei Viertel davon über Berlin. Die geteilte Stadt war das offene Tor im Eisernen Vorhang.
Der ständige Verlust an Menschen nagte am Lebensnerv der DDR . Besonders schmerzhaft für die Machthaber war, dass vor allem junge, gut ausgebildete und hochmotivierte 94 Menschen dem Arbeiter- und Bauernstaat davonliefen. Für Joachim Gauck war vor diesem Hintergrund das Abschiednehmen von Freunden und Bekannten etwas ganz Normales, es gehörte dazu.
Klassenkameraden kamen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zum Unterricht, Kommilitonen aus seiner Rostocker Fakultät verschwanden über Nacht. Aus seiner Straße in Brinckmansdorf gingen vier Familien, darunter die des Mädchens, das er mit sieben Jahren als Erste geküsst hatte. Der Richter aus der Doppelhaushälfte neben seinen Großeltern floh, genauso wie der Jurist aus dem Haus seiner Eltern. Von den Kapitänsfamilien in Wustrow, die mit seinen Eltern eng befreundet gewesen waren, blieb nicht eine einzige auf dem Fischland. Auch seine geliebte Tante Marianne, mit
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