Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Freundin Beate Brodowski.
Wie schon in Lüssow stürzte sich Joachim Gauck auch in Evershagen in seine Arbeit, vielleicht noch besessener als zuvor. Daneben blieb kaum ein Blick für seine triste Umgebung und wenig Verständnis für die Nöte seiner Familie: »Mit gutem Gewissen habe ich die Familie dem Beruf nachgeordnet. Es gab so viel zu tun in Evershagen. In meiner Landgemeinde hatten noch fast alle der Kirche angehört, jetzt musste ich nach Christen suchen. Es war wie die Entsendung in ein Missionsland.« Als er sein neues Amt antrat, existierte nichts von dem, was eine evangelische Kirchengemeinde ausmacht. Ein Kirchengebäude war in den Plänen der Architekten des Sozialismus nicht vorgesehen. Ein Pfarrhaus, Gemeinderäume? Ebenfalls Fehlanzeige. Gauck musste beim Aufbau seiner Gemeinde am Nullpunkt beginnen. Wenn er sich sonntags seinen Talar anzog, predigte er zu Beginn vor kaum mehr als einem Dutzend Gläubigen.
Unter der Woche zog er von Haus zu Haus, klopfte, klingelte an jeder Tür, fast immer öffneten Frauen. Für die Kirche direkt werben durfte er nicht, also stellte er sich mit den Worten vor: »Ich möchte Sie besuchen, wenn Sie evangelisch sind.« Interessierte lud er zu einem Bibelabend oder einem Glaubensgespräch ein. Seine Stärken bei dieser Missionsarbeit waren seine ausgeprägten Fähigkeiten, gut zuhören zu können und auf die Bedürfnisse der Menschen, die er ansprach, einzugehen. Darüber hinaus kam ihm sein enormer zeitlicher Einsatz zugute. Eine Wegbegleiterin jener Jahre versicherte: »Man konnte einen kurzen Draht zu ihm haben, er hat einen nie abgewiesen. Ich konnte ihn auch spätabends anrufen, da gab es keine Formalitäten.« 114 Was für seine Kirchgemeinde positiv und lobenswert war, empfand seine Familie als anstrengend und lästig. Ständig klingelte das Telefon bei den Gaucks, und der Pastor musste weg. Christian berichtete: »Es gab kaum ruhige Momente, bei uns war immer irgendwas los, die Wohnung war immer voll mit Leuten.« Da die Kirche über keine eigenen Räume verfügte, fanden Konfirmandenunterricht, Christenlehre und andere Veranstaltungen unter christlichem Vorzeichen in Privatwohnungen statt. Oft in der Wohnung der Gaucks. Wenn mehrere Kinder in den engen Wohnzimmern saßen, musste schon mal eines auf dem Schoß eines älteren sitzen. In den achtziger Jahren kam das Westfernsehen. Der Norddeutsche Rundfunk filmte einen solchen Konfirmandenunterricht. »Das waren mutige Kinder und mutige Eltern«, erinnerte Gauck sich Jahrzehnte später: »Ich hatte vor dem Film eine stundenlange Debatte mit einer Mutter, ob ihr Kind dabei sein darf. Fünfundachtzig Prozent der Bewohner von Evershagen hätten nicht den Mut gehabt mitzumachen.«
Hansi Gauck, die den Umgang mit ihr unbekannten Menschen eher scheute, hatte in Evershagen kaum Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Notgedrungen saß sie in ihrer winzigen Küche, wenn ihr Mann mit seinem Kirchgemeinderat im Wohnzimmer tagte. Als die Pastorenfrau an Gaucks Seite, das klassische Bild, wollte sie weniger denn je wahrgenommen werden. Ihre damaligen Freunde und Bekannten nahmen sie durchweg als »bescheidene, stille, zurückhaltende Frau wahr, die überhaupt kein Bedürfnis hatte, sich in den Mittelpunkt zu spielen«. Tatsächlich war sie unglücklich mit ihrem Leben und litt. An ihrer Wohnung, an dem Umfeld, in dem sie lebte, an der Tatsache, dass ihr Mann immer Zeit für seine Gemeindemitglieder hatte, aber selten für sie. 115
Seine sonntäglichen Gottesdienste hielt Joachim Gauck bis Mitte der achtziger Jahre in der St.-Andreas-Kirche im benachbarten Reutershagen. Erst 1984 durfte sich die katholische Gemeinde am Rand von Evershagen die Thomas-Morus-Kirche bauen. Die Katholiken erlaubten den Evangelischen, ihr Gotteshaus mitzubenutzen, so dass Joachim Gauck von da an endlich auch in Evershagen Gottesdienste halten konnte. Predigen war seine größte Begabung. Auf der Kanzel war er eine herausragende Persönlichkeit. Grundsätzlich sprach er in freier Rede, sein Manuskript bestand lediglich aus einer Gliederung und einigen dazu notierten Stichworten. Die endgültigen Formulierungen fand er aus dem Stegreif. Viele Gemeindemitglieder sahen in ihrem Pastor einen »begnadeten Redner«, der kein abgehobener Akademiker war, sondern ihre Sprache sprach, was sie sehr schätzten. Geschickt fand Gauck für seine Predigten plastische Bibelstellen, die Bezug zu seinem Thema und zum realen Leben hatten. Gebannt hörten die
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