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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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Hinzugezogenen fast keine Rolle mehr spielte. Joachim Gauck spürte den Bedeutungsverlust der Kirche in seiner Gemeinde beispielsweise daran, dass es kaum noch zu kirchlichen Eheschließungen kam: »Ich habe wohl wenig mehr als zehn Trauungen durchgeführt in zwanzig Jahren.«
    Der junge Pfarrer jedoch sah in der schwierigen Aufgabe eine Chance für sich. Sein Landesbischof Heinrich Rathke, zu dem Gauck aufblickte, war einer der Ersten gewesen, der 1962 in ein derartiges Plattenbauviertel gezogen war, um eine Kirchengemeinde aufzubauen. 1972, im selben Jahr, in dem Gauck nach Evershagen ging, wurde Rathke zum neuen Landesbischof von Mecklenburg gewählt. Es konnte für einen jungen Pastor am Beginn seiner Laufbahn nicht verkehrt sein, sich diesen Geistlichen zum Vorbild zu neh 111 men und sich seinen beruflichen Werdegang genau anzusehen.
    Die Idee für den Wechsel war im Januar 1971 geboren, als Gauck bei einer persönlichen Einladung seinem ehemaligen Kommilitonen Christoph Stier wiederbegegnete. Der war im Jahr zuvor Gemeindepastor in der benachbarten Plattenbausiedlung Lütten-Klein geworden und versuchte seinem ehemaligen Kommilitonen die Aufgabe in Evershagen schmackhaft zu machen. Gauck war dem Gedanken nicht abgeneigt, aber zögerlich, so wie er schon bei der Wahl seines Studiums und der Frage der Berufswahl gezögert hatte. Joachim Gauck tat sich mit richtungsweisenden Lebensentscheidungen schwer, das sollte sich auch in späteren Lebensphasen ein ums andere Mal bestätigen. Mehrere Besuche der Familie Stier bei den Gaucks in Lüssow folgten, bei denen Stier versuchte, Gauck von der neuen Aufgabe zu überzeugen. Am 1. September 1971 trat Stier sogar im Gemeindekirchenrat von Lüssow auf, um dafür zu werben, dass man Gauck nach Rostock ziehen lassen sollte. Bemerkenswert: Auch Christoph Stier wurde später Landesbischof, er folgte Heinrich Rathke 1984 in dieser Funktion nach.
    Damit Gauck sein Amt überhaupt antreten konnte, musste eine Unterkunft für die fünfköpfige Familie gefunden werden. Weil Hansi Gauck seit ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin Mitglied einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft gewesen war, bekam die Familie eine Wohnung in Rostock-Evershagen zugewiesen, eines der raren und kostbaren Güter in der Mangelwirtschaft der DDR . Jahrelang hatten die Gaucks Genossenschaftsanteile bezahlt und der Familienvater hatte die für eine Wohnungszuteilung erforderlichen »manuellen Arbeitsleistungen« auf Baustellen erbracht. Das zahlte sich jetzt aus. 112
    Für Hansi Gauck und die drei Kinder war der Umzug vom alten Pfarrhaus mit dem großen Garten in die kleine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, umgeben von einer kahlen Mondlandschaft, ein Schock. Die Wohnungen waren so hellhörig, dass selbst das Abrollen des Klopapiers auf der Toilette den Nachbarn kein Geheimnis blieb.
    Erst ein Teil der eintönigen Betonblöcke war fertiggestellt, und um sie herum war Matsch, so weit das Auge reichte. Man konnte sich nur mit Gummistiefeln durch die Schlammwüste bewegen, von denen ständig fünf verdreckte Paare vor der Tür der Gaucks standen. Es war eine Einöde ohne Straßen und Fußwege, ohne Bäume und Sträucher. Zwar gab es schon Einkaufsmöglichkeiten, auch Kinderkrippen und Schulen, aber nicht eine einzige kulturelle Einrichtung und lediglich ein Restaurant. Anfang der siebziger Jahre konnte man in Evershagen schlafen und die Abende vor dem Fernseher verbringen, mehr nicht.
    Die Entscheidung für dieses Umfeld traf der Familienvater im Alleingang, Frau und Kinder hatten kein Mitspracherecht. Gaucks Familie war todunglücklich über den Wohnortwechsel. Sein ältester Sohn Christian empörte sich über die diktatorische Entscheidung seines Vaters. »Wir kamen als Familie immer an zweiter Stelle, er hat alles allein entschieden. […] Meine Mutter hat sehr unter dem Umzug in dieses furchtbare Plattenbauviertel gelitten.« Eine Nachbarin der Familie Gauck bestätigte diesen Eindruck. »Sie hat das in der Platte nicht ausgehalten, diese Tristesse, diese Gleichförmigkeit.« Hansi Gauck selbst sprach von den »bitteren Schattenseiten« der Jahre in Evershagen. »Ich erinnere mich nicht gerne daran. […] Dort herrschte eine furchtbare Atmosphäre. Die Nachbarn bespitzelten sich gegenseitig. Auch für die Kinder war es schrecklich.« Wann immer es ging, entfloh Hansi Gauck mit ihren Kindern dem 113 Umfeld in Evershagen. Entweder nach Brinckmansdorf in den Garten ihrer Schwiegereltern oder an den Parumer See zu ihrer

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