Gauck: Eine Biographie (German Edition)
ganze Klasse schaute das Mädchen an, das tapfer antwortete: »Wo ist denn die Liebe? Können Sie mir mal zeigen, wo die ist?« Ihr Vater hatte sie auf die Frage vorbereitet. Christian war mit der identischen Wortwahl drangsaliert worden. »Wo ist denn jetzt dein lieber Gott«, hatte eine Lehrerin Christian in einer Pause auf dem Schulhof gefragt. »Ich glaube, überall«, entgegnete der Junge, solch einer Attacke noch nicht gewachsen. »Auch in dem Tank von meinem Motorrad?«, verhöhnte ihn die Pädagogin daraufhin. Als Geld für die Sowjetarmee gesammelt wurde, wehrte Christian ab: »Wir sind Pastors, mein Vater mag keine Rote Armee.« Besser wusste er die Haltung seines Vaters nicht wiederzugeben, der zu Hause die Parole ausgegeben hatte, dass man nicht jede geforderte »Solidaritätsaktion« unterstützen werde.
Die Pastorenkinder waren permanentem Druck von zwei Seiten ausgesetzt. Auf der einen Seite die parteihörigen Lehrer, auf der anderen Seite ihr unbeugsamer Vater. Der hatte dieselben Erwartungen an sie wie an sich selbst. Sie sollten sich den widrigen Verhältnissen und der Willkür des SED -Staates entgegenstellen. Das war der Weg Joachim Gaucks und seiner Geschwister gewesen, das sollte auch der Weg für seine Kinder sein. Selbstverständlich kam ein Eintritt seines Nachwuchses in die Jugendorganisationen der DDR nicht in Betracht. So wie das in seiner Jugend für ihn und seine Geschwister nicht in Betracht gekommen war. Christian Gauck: »Ich durfte das alles nicht, weil er 122 Pfarrer war, das war auch frustrierend, klar.« Anfang der achtziger Jahre, als er schon volljährig war, trat Christian Gauck dann doch noch der FDJ bei. Während der wenigen Monate seiner Zugehörigkeit zog er dort nach eigener Aussage »so was vom Leder, dass sie mich rausgeschmissen haben«.
Die Lehrer reagierten mit Repressalien gegen »Abweichler«, die sich nicht in das sozialistische Erziehungssystem einfügten. Mal schlossen sie Gesine vom Schulfasching aus, mal drangsalierten sie Christian mit einer willkürlich schlechten Note im Deutschunterricht. Oder sie verlangten, dass Martin die zwei mal drei Zentimeter große aufgenähte Fahne der Bundesrepublik von seinem neuen Parka aus dem Westen entfernen sollte. Wir wurden »vor versammelter Schulklasse als Menschen des Konsumdenkens und vom Kapitalismus infiltriert bezeichnet, weil wir Westfernsehen sahen«, berichtete Christian Gauck über seine Schulzeit. Und er erinnerte sich an »Fahnenappelle, wo öffentlich Tadel und Verweise« gegen uns ausgesprochen wurden. Natürlich fühlten sich Gaucks Kinder getroffen, durch »diese ständigen Gängeleien und Hänseleien durch einige Lehrer, aber auch Mitschüler, nur weil wir an Gott glaubten und zu bestimmten Dingen eine andere Meinung hatten. […] Auf dem Dorf ging das ja alles noch, da waren ja viele kirchlich, aber später in der Stadt, in Rostock, war es unerträglich.« Christian reagierte mit Scham auf die Drangsalierungen: »Ich hatte über Jahre hinweg Angst, auf mein Außenseiter-Dasein angesprochen zu werden – vor den anderen.«
Joachim Gauck intervenierte gegen solche Schikanen der Lehrer. Er fuhr zu Elternabenden und verwahrte sich dagegen, dass seine Kinder schon in der Schule politisiert würden. Er sprach beim Direktor vor und debattierte mit ihm und dem Parteisekretär der Schule vier Stunden lang über 123 eine ungerechte Benotung von Christian. Als er kein Gehör fand, schrieb er eine Eingabe an den Stadtschulrat. Gesine erinnerte sich an diese Auftritte ihres Vaters: »Als wir älter waren, war uns das manchmal richtig peinlich. Es war anstrengend, anders zu sein.« Aber es gab kein Entrinnen. Wenn es um Schule, Studium und Beruf ging, hatten die Kinder den »falschen« Vater. Es war klar, dass der Staat sie nicht studieren lassen würde. Trotz guter Noten durfte Christian zunächst nicht einmal Abitur machen. Der Besuch der Erweiterten Oberschule im Anschluss an die zehnte Klasse wurde ihm verweigert, so dass er gezwungen war, eine zweieinhalbjährige Ausbildung zum Orthopädietechniker zu machen. Erst nach Abschluss der Berufsausbildung konnte er das Abitur neben seiner Berufstätigkeit an einer Abendschule nachholen. Sein Traum, Medizin zu studieren und Arzt zu werden, ging dennoch nicht in Erfüllung. Seine Bewerbung für einen Medizinstudienplatz war chancenlos. Er sei doch der Sohn vom Pastor, sagte man ihm, er könne ja statt Medizin Theologie studieren wie sein Vater. Auch Martin wurde
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