Gauck: Eine Biographie (German Edition)
trotz eines Notendurchschnitts von 1,4 in der zehnten Klasse nicht zur Erweiterten Oberschule zugelassen. Nicht einmal sein Wunsch, dann wenigstens einen Ausbildungsplatz als Kfz-Mechaniker zu bekommen, wurde ihm 1979 erfüllt. Notgedrungen folgte er dem Beispiel seines Bruders und machte ebenfalls eine Ausbildung zum Orthopädietechniker.
Was es für einen Lehrer bedeutete, sich mit den Pastorenkindern zu solidarisieren, erlebte Sibylle Hammer, die Patentante von Gaucks jüngster Tochter Katharina. Sie war 1975 Lehrerin an der Polytechnischen Oberschule in Rostock-Evershagen, die von Christian, Martin und Gesine besucht wurde. Sie war dort Christians Englischlehrerin und unterrichtete Martin und Gesine bei Krankheitsver 124 tretungen in den Fächern Deutsch und Englisch. Als die Schulleitung in Erfahrung brachte, dass Sibylle Hammer die Gauck-Kinder auch privat kannte und mit der Familie befreundet war, wurde sie vorgeladen. Man legte ihr dringlich nahe, die Kinder des Pastors in der Schule zu ignorieren und keine privaten Kontakte mit ihnen zu pflegen. Hammer lehnte das empört ab, worauf der Schuldirektor begann, Druck auf die Lehrerin auszuüben. Er schickte demonstrativ SED -konforme Kollegen in ihren Unterricht, die ihre pädagogischen Leistungen überwachen sollten. Andere Schikanen folgten. Nach einiger Zeit konnte Hammer den Schulalltag nur noch mit Hilfe von Beruhigungsmitteln bewältigen. Schließlich kündigte sie entnervt und beschloss bald darauf, aus der DDR zu fliehen.
Als Reaktion auf den Mauerbau 1961 hatte sich im Kreis West-Berliner Studenten eine spontane Fluchthilfebewegung gebildet, die eine enorme publizistische und propagandistische Wirkung entfachte. Sie führte der Welt jahrelang in spektakulären Aktionen vor Augen, dass der DDR die Menschen wegliefen, selbst wenn sie dafür ihr Leben einsetzen mussten. Nach einer anfänglich »idealistischen« Fluchthilfe stiegen bald kommerzielle Organisationen in das »Geschäft« ein. Der Preis für das »Herausholen« eines DDR -Bürgers bewegte sich dabei um die viertausend D-Mark.
Auf diese Weise gelangte auch Sibylle Hammer am 18. Juni 1977 im Kofferraum eins Renault R4 nach West-Berlin. Eine ihrer Fluchthelferinnen war Gaucks in West-Berlin lebende Schwester Sabine, die zu diesem Zweck konspirative Absprachen traf und Botengänge übernahm. Sabine Gauck und Sibylle Hammer waren und sind seit dem gemeinsamen Besuch der Kinder- und Jugendsportschule in Rostock befreundet. Nachdem Hammer glücklich nach West-Berlin geschmuggelt worden war, durfte sie, wie andere Rosto 125 cker auch, mehrere Wochen lang im Haus ihrer Freundin Sabine wohnen.
Ein Dreivierteljahr später erhielt Joachim Gauck die Erlaubnis, Sabine aus Anlass ihrer zweiten Hochzeit in West-Berlin zu besuchen, und traf hier auch Sibylle Hammer wieder. Er führte mit ihr heftige Diskussionen über ihre Flucht aus der DDR . Gauck nahm seiner Freundin übel, dass sie nicht geblieben war, um wie er weiter für Veränderung in der DDR einzutreten. »Es können doch nicht alle gehen!«, warf er ihr vor. Hammer wiederum, die vor der Perspektive gestanden hätte, ihr Dasein im SED -Staat als Hilfsarbeiterin zu fristen, hielt ihm empört entgegen: »Ich war nicht bereit, mich zu opfern.« Sie war der Meinung, dass Gauck aus dem Freiraum der Kirche heraus leicht reden hatte.
Stadtjugendpastor
1981 übernahm Gauck eine weitere Aufgabe für die evangelische Kirche: das Nebenamt des Stadtjugendpfarrers von Rostock. Schon immer hatte er die Nähe zu Jugendlichen gesucht. Die Arbeit mit jungen Menschen war eine Aufgabe, die ihm besondere Freude bereitete. Hier ging es ungezwungener und unkonventioneller zu als bei seiner normalen Arbeit als Pastor. Bei Jugendstunden und sonstigen Veranstaltungen trugen Pastoren grundsätzlich keinen Talar oder schwarzen Anzug. Dementsprechend konnte man Joachim Gauck hier mit Sonnenbrille, engen Jeans und Polo-Shirt bekleidet erleben. Der deutlich jünger aussehende Pastor unterschied sich dadurch äußerlich kaum noch von den Jugendlichen und fand wohl auch deswegen Zugang zu ihnen. »Er war, was die Wahrnehmung anderer und ihrer Gefühle betraf, sehr stark«, beurteilten Weggefährten 127 Gaucks Wirken als Stadtjugendpfarrer, »darum haben viele Jugendliche ihn als väterlichen Freund empfunden.«
22 Ein cooler Pastor
Nicht nur im Hinblick auf seine Kleidung, ging der Stadtjugendpastor locker und ohne Dünkel zur Sache. Es machte ihm auch nichts aus, mit
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