Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Alarmbereitschaft. Ein Jahr zuvor hatten am Rand des Ost-Berliner Kirchentages rund sechshundert Menschen einen »Kirchentag von unten« abgehalten und vor dem Ende der Veranstaltung Transparente mit der Aufschrift: »Glasnost in Staat und Kirche« entfaltet. Diese Demonstration gegen den SED -Staat war ein Signal für seinen beginnenden Verfall gewesen. Die Machthaber hatten die Sprengkraft, die darin lag, erkannt. Keinesfalls durfte sich so etwas wiederholen. 177
Ständig musste Gauck beim Rat des Bezirkes über einzelne Programmpunkte verhandeln. Wieder einmal galt es, Kompromisse zu schließen und zu taktieren, um die erhoffte öffentliche Wirkung des geplanten Kirchentages nicht zu gefährden. »Das Ganze war immer von Angst besetzt«, blickte eine von Gaucks Mitarbeiterinnen auf ihre damalige Arbeit zurück. Der Chef des Kirchentages musste gewährleisten, dass oppositionelle Gruppierungen und Bewegungen keinen Einfluss auf den Ablauf des Kirchentages bekamen. Die Stasi dokumentierte: »Im gleichen Sinne wird die Arbeit der Basisgruppenarbeit – ›Kirche von unten‹ – von Larve gesehen. Er will diese Basisgruppenarbeit im vertretbaren Maße gegenüber den staatlichen Organen tolerieren, aber keine offenen politischen Provokationen zulassen.«
Zu denen, die die Öffentlichkeit des Kirchentages gern genutzt hätten, um ihre Anliegen vor einem großen Publikum ausbreiten zu können, gehörte der Bürgerrechtler und ehemalige Pastor Heiko Lietz. Bereits in den siebziger Jahren war Lietz der SED mit offenem Visier gegenübergetreten und hatte verschiedenen Oppositionsgruppen der DDR angehört. Lietz galt allen staatlichen Stellen als rotes Tuch, und das MfS hatte sich seiner im Operativen Vorgang »Zersetzer« angenommen. Aber auch unter den Kirchenleuten sahen viele in ihm einen schwierigen Charakter oder gar einen Querulanten. 1980 war er wegen seines Engagements in der DDR -Friedensbewegung aus dem Kirchendienst ausgeschieden.
Lietz und Gauck kannten sich schon ewig. Das Verhältnis des Leiters des Kirchentages zum Dissidenten Lietz war ambivalent. Einerseits schätzte Gauck ihn für sein offenes kritisches Auftreten, andererseits war ihm die Vorstellung, Lietz könnte versuchen, während des Kirchentages nicht erwünschte Aktionen loszutreten, ein Gräuel. 178
Das sah die Führung der evangelischen Landeskirche genauso, die weder ein Interesse an spektakulären Auftritten Ausreisewilliger während ihres Kirchentages hatte noch an Protestveranstaltungen der Basisgruppe »Kirche von unten«. Zunächst wurde Lietz darum ausgebremst und bei der Vorbereitung des Kirchentages nicht berücksichtigt. Erst als er sich bei Gauck über diese Tatsache beschwerte, setzte ihn dieser als Leiter einer Themengruppe im Vorfeld des Kirchentages ein. Wie fast vorhersehbar, kam es schon bald zu Missstimmung zwischen den beiden. Lietz war in Gaucks Augen ein »Radikaler«, der nicht in der Lage war, Maß zu halten, und regelmäßig übers Ziel hinausschoss. Der Stasi blieb das distanzierte Verhältnis der beiden nicht verborgen: »[…] immer wieder bekräftigt Gauck, dass er mit dem Herrn Lietz nichts gemein habe, dass er schon mehrere Gespräche mit Herrn Lietz geführt hat, dass dieser Mann keine Chancen hat, einen Kirchentag von unten zu organisieren.« Ein anderer IM wusste zu berichten, dass erkennbar sei, »dass ›Larve‹ an keinen Themen interessiert ist, die sich offen gegen die staatlichen Verhältnisse der DDR richten. […] Obwohl in politischer Hinsicht zwischen ›Larve‹ und Lietz im Wesentlichen gleiche Zielstellungen bestehen, unterscheiden sie sich aber wesentlich im methodischen Vorgehen.« Kurz vor dem Beginn des Kirchentages wurde Lietz als Leiter seiner Arbeitsgruppe abgesetzt.
Gauck rechtfertigte später sein damaliges, taktisch bedingtes Verhalten: »An Mut mangelte es nicht. Aber ich brauchte eine Halle, ich brauchte Sonderzüge und vieles andere mehr.« Die Geheimpolizei ließ sich durch sein Taktieren nicht täuschen und hielt fest: »Insbesondere die Informationen der Abteilung XX lassen einen krassen Gegensatz zwischen den Äußerungen von Larve gegenüber staatlichen 179 Vertretern und seiner Meinung im Rahmen des Kirchentagsausschusses erkennen.« »Larve« genoss diesmal eine noch viel höhere Aufmerksamkeit der Stasi als beim vorangegangenen Kirchentag. 1987 waren ein Dutzend Inoffizielle Mitarbeiter auf ihn angesetzt, sein Telefon wurde abgehört, seine Post heimlich geöffnet und in
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