Gauck: Eine Biographie (German Edition)
zu einer Integrationsfigur der Basis.
Schließlich: Joachim Gauck ist nicht nur ein großartiger Redner und ein Medium für die Stimmungen seiner Mitmenschen, sondern auch ein Mann mit Courage. Denn noch ist es gefährlich, den Staat in dieser Weise herauszufordern. Der Krake Stasi lauert nach wie vor darauf, jeden Widerstand gegen das Machtmonopol der SED zu ersticken. Und noch werden Menschen allein dafür, dass sie ihre Meinung frei äußern, drangsaliert und verhaftet. Die Angst vor einer »chinesischen Lösung« ist allgegenwärtig. Die Angst also, dass die Greise im Politbüro zur Verteidigung ihrer Macht Panzer einsetzen werden, wie es die chinesische KP -Führung in diesem Sommer auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vorexerziert hat.
Die SED steht dem Geschehen ebenso hilflos gegenüber wie die Stasi. Am liebsten würde sie weitere Demonstrationen verbieten, aber das traut sie sich nicht angesichts der Demonstrationszüge und der Stimmung im ganzen Land. Soll man den nächsten Gottesdienst durch die Entsendung 199 eigener Abordnungen stören? Oder sogar durch Provokationen Gewalt heraufbeschwören und so die Polizei zum Eingreifen zwingen? Oder doch lieber das Gespräch mit den vermeintlichen Anführern der Demonstrationen suchen? Im Vorfeld von Gaucks zweiter Andacht in der Marienkirche, am 26. Oktober, kommen warnende Telefonanrufe aus der Region. Die Parteisekretäre in den Betrieben rufen die SED -Mitglieder zur Teilnahme an diesem Gottesdienst auf. Für den Abend sind Störungen und Provokationen durch die Staatspartei zu erwarten, die das Geschehen nicht einfach so über sich ergehen lassen will. Bei den nächsten Demonstrationen treten die Rostocker Genossen mit einem großen Banner auf: »Politbüro mit neuem Blut, gebt uns für die Zukunft Mut!« Eine Anspielung auf die Ablösung von Erich Honecker durch Egon Krenz Mitte Oktober.
Gauck beschließt, auf die Warnungen offensiv zu reagieren. Er ruft beim Rat des Bezirks an und bittet um ein Gespräch. Am Mittag kommt es zu einem Treffen von Kirchenleuten und Vertretern der Stadt Rostock. Zunächst versucht der regionale Polizeichef, Druck zu machen. Er spricht von fehlenden Genehmigungen für die befürchtete erneute Demonstration und drohendem Chaos. Die Kirchenleute lassen sich nicht einschüchtern. »Wir machen keine Demonstration. Die Demonstrationen macht das Volk«, hält einer von ihnen, Fred Mahlburg, der damalige Leiter der evangelischen Akademie in Mecklenburg, dem entgegen. Der Polizeichef gibt überraschend schnell klein bei: »Ich will ja nur wissen, wohin ich meine Leute stellen soll, damit ich den Verkehr regeln kann.« Gauck ist verblüfft: »Wir mochten es noch gar nicht so recht glauben: Wir waren es gewesen, die Bedingungen gestellt hatten, und nicht umgekehrt!«
27 Im Rostocker Rathaus mit anderen Kirchenvertretern 200
Ende Oktober stellt die Landeskirche Gauck von der normalen Arbeit in seiner Gemeinde frei, damit er sich ganz auf die Donnerstagsgottesdienste konzentrieren kann. Sein Wirken als »Revolutionspfarrer« ist jetzt wichtiger. Nur er findet Sätze wie: »Ich bin noch in meinem Mauerland.« Christoph Kleemann beobachtet an seinem Amtsbruder: »Er trat couragiert auf und leistete viel Überzeugungsarbeit in persönlichen Gesprächen, denn viele Menschen waren doch anfangs sehr zögerlich und ängstlich.« Die SED hält in ihren täglichen »Informationen über die politische Lage« fest: »In 5 Rostocker Kirchen wurden am 2. 11. 1989 Gottesdienste durchgeführt. In allen Kirchen wurden die Predigten auf der Grundlage der Predigt von Pastor Gauck 201 in der Marienkirche durchgeführt. Der Inhalt dieser Predigten war voll gegen die Partei gerichtet. (Partei ist Wolf im Schafspelz – glaubt ihnen nicht – sie haben noch nie mit dem Gesicht zum Volk gestanden – zweifelt alles an – die uns geknechtet haben, winden sich und geben es aus als Wende – sie haben uns lange genug irregeführt […])« Nach diesem dritten Auftritt in der Marienkirche ist Joachim Gauck in aller Munde. Er wird zum Wortführer und zur Leitfigur der Revolution in Rostock.
Als eine Woche später die Mauer fällt, ist der Höhepunkt der revolutionären Bewegung im Norden erreicht. Die Stasi zählt bei dieser Donnerstagsdemonstration vierzigtausend Teilnehmer, es werden nie wieder so viele sein. Gauck resümiert später über diese Wochen: »Endlich verabschiedeten wir uns von unserer Angst.« Zugleich blickt er auch
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