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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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hatten.« Sie sagt zu Gauck: »Ich finde, Jochen, du musst hier jetzt das Wort ergreifen.« Der Angesprochene sei daraufhin sehr gerührt gewesen, erinnert sich Glüer und habe nicht »lange gefackelt. Wenn man ihn brauchte, ließ er sich brauchen.«
    Also hält Gauck am 19. Oktober 1989 in der Marienkirche die Predigt der dritten Fürbittandacht. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Vertrauter bereitet er sich auf den Gottesdienst vor. Was ist das aktuell wichtigste Thema? Welcher biblische Text und welche Lieder passen dazu am besten? Seine erste Frage an seine Mitstreiter ist immer: »Wie geht es euch?« Dann lässt er sie ihre Gedanken und Gefühle zum Geschehen aufschreiben. »So wusste er, wie weit die anderen sind, wie weit sie Mut hatten oder ängstlich waren.« Weil seine Predigt auch in der Petrikirche verlesen werden soll, muss Gauck sie gegen seine Gewohnheit ausformulieren und zu Papier bringen. Schnell spricht sich herum, dass diesmal Gauck die Andacht halten wird. Man kennt ihn seit seiner Rede auf dem Kirchentag ein Jahr zuvor. Die beiden Kirchen St. Marien und St. Petri können die Menschen nicht mehr aufnehmen. Dicht aneinandergedrängt, schwitzend, hören die Rostocker dem Pastor zu. Mit Lausprechern wird seine Ansprache nach draußen übertragen. Auch der Platz vor der Marienkirche ist voll. In und um das Gotteshaus sind etwa siebentausend Menschen versammelt, in der Petrikirche haben sich zweitausend Besucher eingefunden. Gauck besitzt die Chuzpe, auch die Stasileute im überfüllten Gotteshaus zu begrüßen. Heiterkeit im Kirchenschiff. Man kennt die Herren, mögen sie sich auch noch so gut verkleiden. Die Vertreter von »Horch und Guck« wirken fast hilflos. Innerhalb von drei Wochen ist aus einer überschaubaren kirchlichen Veranstaltung eine Massenbewegung geworden. Nicht nur in Rostock, auch 194 in anderen Städten des Bezirks werden Fürbittandachten gehalten und finden politische Kundgebungen statt.

    26  Gauck spricht in der Marienkirche 1989
    Gauck predigt zunächst im klassischen Sinne. Wie immer verwendet und interpretiert er dabei biblische Texte so, dass sie unmissverständlich auf die aktuelle Situation zugeschnitten sind. Diesmal hat er sich die biblische Figur des Amos ausgesucht: »Er sieht schlimme Dinge: Götzendienst, Ungerechtigkeit und soziales Unrecht bestimmten die Zeit.« Keiner seiner siebentausend Zuhörer missversteht, dass die DDR gemeint ist. Genauso wenig wie sie Gaucks Zitat von Rosa Luxemburg missverstehen: »›Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder 195 öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein.‹« Dann spricht Gauck unverhüllt die aktuellen Ereignisse an: »Gibt es denn zwei Welten, in denen wir leben, die der herrschenden Parteischicht und die des Volkes? Wir wollen aber nicht in Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir wollen nicht mehr hätscheln und entschuldigen, was uns krank macht. Wir wollen Recht Recht und Unrecht Unrecht nennen.« Das ist keine Predigt mehr, sondern eine politische Kampfansage. Gaucks alter Weggefährte, Christoph Kleemann, empfindet die Ansprache als »ein Mittelding zwischen Predigt und Rede. Alle, die Zweifel am System hatten, fühlten sich durch ihn bestärkt. Seine Rede hatte eine geradezu befreiende Wirkung.«
    Gauck ruft die Menschen nicht dazu auf zu demonstrieren. Aber er zündet den Funken, auf den sie gewartet haben. Später wird er zu diesem Moment sagen: Man »wusste, dass es einfach eine Frage der Zeit war, bis die Menschen auf die Straße gehen würden«. Diese Selbsteinschätzung seines Beitrags zur ersten Rostocker Demonstration ist eine Untertreibung. Die Stasi identifiziert Gauck sofort als die zentrale Figur und interpretiert seine Worte als »Angriffe gegen SED und MfS «. Er habe »die Andachten so gestaltet, dass sie zum Aufputschen der Anwesenden, auf die Straße zu gehen«, geeignet gewesen seien. Am Ende des Gottesdienstes bricht etwas aus den Menschen heraus. Sie klatschen Beifall, manche weinen, dann strömen sie aus den beiden Kirchen, es ist wie eine Entladung. Der Menschenstrom vereinigt sich mit den draußen Stehenden, und erstmals gehen die Rostocker auf die Straße. Fünfzehntausend Menschen, die friedlich für mehr Demokratie, 196 Selbstbestimmung, freie

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