Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Wahlen und gegen die Staatssicherheit demonstrieren. Es ist ein Aufbegehren gegen die alles beherrschende Staatspartei und zugleich ein Überwinden der eigenen Angst. Christoph Kleemann marschiert bei dieser ersten Rostocker Demonstration mit. »Ich hatte Schiss, als wir durch die Kröpeliner Straße zogen mit ihren vielen Quergassen. Ich fürchtete, für die Stasi könnte das ein gefundenes Fressen sein, dem Protestzug ein Ende zu bereiten. Immerhin stand sie unauffällig auffällig in Grüppchen bereits um die Marienkirche.« Tatsächlich sind rund um die Kirche Dutzende Polizisten und Stasimitarbeiter postiert. Sie machen Fotos und Videos von den Demonstranten, um spätere Strafverfahren gegen die Rädelsführer vorzubereiten. Auch der Einsatz von Waffen steht zur Disposition, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Ein oppositioneller Jugendlicher hat einen bunten Schmetterling aus Pappe gebastelt und trägt ihn an einem Stock vor der Menge her. Darauf steht »Gewaltfrei für Demokratie«. Der Schmetterling wird auch bei allen künftigen Demonstrationen als eine Art Wahrzeichen vorneweg geführt werden. In einem langen Zug marschieren die Rostocker durch ihre Stadt bis zur August-Bebel-Straße, wo sich der riesige Komplex der Staatssicherheit befindet. Immer wieder klatschen die Menschen rhythmisch in die Hände, es ist ein alles durchdringendes Geräusch. Als die Demonstranten an einem Hochhaus vorbeikommen, wo bekanntermaßen viele Stasimitarbeiter wohnen, bricht die Menge in ein gellendes Pfeifkonzert aus. Viele, die mitmarschieren, haben Kerzen in den Händen, auch viele Fenster auf dem Weg sind mit brennenden Kerzen erleuchtet. Vor dem Gebäude der Staatssicherheit stellen die Demonstranten sie ab. Auf die Fenstersimse und am Eingangsportal, wo die bewaffneten Posten stehen. Die gefürchtete Stasizentrale 197 wird an diesem Abend zum erleuchteten Mahnmal für die Wiedergeburt der Zivilcourage in Rostock. Am Abend nach der Demonstration geht Gauck mit seiner Frau durch die dunklen Rostocker Straßen nach Hause. Er schweigt und schluckt. »Was hast du?«, fragt ihn Hansi. »Ich denke an unsere Söhne, die hier nicht dabei sein können.« Dann kommen ihm die Tränen.
Als Joachim Gauck zum Akteur der Revolution wird, bringt er eine Waffe mit, die er beherrscht wie kein Zweiter in Rostock: seine Wortmacht. Auf der Kanzel ist er mitreißend, ja geradezu unwiderstehlich. Seine Predigt-Reden, die er von jetzt an jeden Donnerstag hält, werden in immer mehr, schließlich in sieben Rostocker Kirchen verlesen, damit möglichst viele Menschen sie hören können. Bald nennt man ihn den »Revolutionspastor«. »Jetzt wurde er bekannt. Er war die öffentliche Stimme«, erinnert sich Dietlind Glüer, »er stand dafür, er übernahm die Verantwortung.« Das Urteil über den Redner Gauck und seine damalige Wirkung auf die Menschen ist einhellig: »ein wortgewaltiger Prediger und Redner«, ein »begnadeter Redner«, der Mann mit dem »unglaublichen Selbstvertrauen«. Wer ihn hört, spürt danach »Hochgefühl« und »Kraft«. »Er hat den Menschen Mut gemacht zum aufrechten Gang.« »Man ging hin, nicht um irgendeine Predigt zu hören, sondern um ihm zuzuhören. Da stimmte jeder Satz, jedes Wort traf die Herzen der Teilnehmer. In diesen Momenten spürte Jochen, wo seine wirklichen Fähigkeiten liegen.«
Neben seiner herausragenden Qualität als Redner verfügt Gauck noch über eine zweite einzigartige Fähigkeit, nämlich die Stimmungen der Menschen zu erspüren und in die richtigen Worte zu kleiden. »Er besitzt die Fähigkeit, Sehnsüchte und Stimmungen der Bevölkerung in Worte zu fassen und daraus ein Handlungsgebot für die Menschen zu 198 entwickeln«, sagt Harald Terpe, ein Rostocker Arzt, der sich im Rostocker Neuen Forum engagiert und in diesen Monaten ein wichtiger Weggefährte von Gauck ist. Eine Ironie des Schicksals ist dabei, dass sein Bruder Wolfgang Terpe für die Rostocker Bezirksverwaltung des MfS arbeitet. Er ist jener Stasi-Offizier, der sich das Ziel gesetzt hat, Joachim Gauck als IM anzuwerben. Gaucks Amtsbruder, Christoph Kleemann, teilt das Urteil Harald Terpes über Gauck: »Er ist nicht der, der sich ein Konzept baut und sich dann Leute dafür sucht. Er stellt sich eher an die Spitze, wenn jemand gebraucht wird, der ein wichtiges Anliegen formuliert. Dann ist er in der Lage, sich dieses zu eigen zu machen und dafür gradezustehen.«
Joachim Gauck ergriff das Wort und wurde – ehe er sich versah –
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