Gauck: Eine Biographie (German Edition)
selbstkritisch auf den Herbst 1989 zurück: »[…] was uns vor allem fehlte, waren nicht nur die richtigen Worte, sondern vor allem die richtige Haltung. Wie auch – waren doch allzu viele von uns durch die Diktatur gebrochene Menschen. Niemand übersteht eine Diktatur schadlos, wenn er jahrzehntelang darin leben muss.«
Neues Forum
Die wichtigste oppositionelle Formierung im Herbst 1989 war in Rostock das Neue Forum. Nach dem Willen seiner Gründer war es zunächst keine Partei, sondern eine »Plattform«. Die dreißig Geburtshelfer um Bärbel Bohley, Katja Havemann, Rolf Henrich und Jens Reich wollten damit den Andersdenkenden in der DDR die Möglichkeit geben, sich öffentlich politisch zu artikulieren. Es war ein Experiment, die Suche nach einem neuen Weg für die DDR . Noch Ende Oktober sagte Rolf Henrich, einer der Mitbe 202 gründer, dass man vorläufig ohne ein umfassendes Programm auskommen wolle: »Wir müssen auch die ganze Kläglichkeit eines Anfangs ertragen lernen.«
28 Dietlind Glüer und Joachim Gauck anlässlich der Feier der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an beide
Die Bürgerbewegung war zunächst auch im Norden vor allem ein Sammelbecken für das schwelende Protestpotential. Noch diffus, ohne klare Zielrichtung. »Wir suchten einen neuen Weg, da war uns jeder willkommen«, erinnerte sich Christoph Kleemann. Es begann in kleinen Zirkeln. Wer sich engagieren wollte, lud Gleichgesinnte in seine Wohnung ein, um mit ihnen zu diskutieren. Man sprach über Bürgerrechte, das alles überragende Thema Flucht und Ausreise, über das Bildungswesen, überhaupt 203 über die ganze Misere der DDR . Auf Initiative der Gemeindepädagogin Dietlind Glüer fand am 11. Oktober der erste öffentliche Auftritt des Neuen Forums in der Michaeliskirche statt. Dreihundertfünfzig Menschen nahmen daran teil; das Treffen galt als die Gründungsveranstaltung der Bürgerrechtsbewegung in Rostock. Die »Mutter der Revolution« nannte man Glüer später, oder auch »den guten Geist des Neuen Forums«. 1995 bekam sie zusammen mit Joachim Gauck für ihr damaliges Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Der Revolutionspastor gehörte nicht zu den Ersten, die im Neuen Forum mitmachten. Er war sich unsicher, ob er der neuen Oppositionsbewegung beitreten und in welcher Funktion er sich überhaupt am revolutionären Geschehen beteiligen sollte. Irgendwann Mitte Oktober fragte er Dietlind Glüer: »Soll ich da eigentlich eintreten?« Sie bestärkte ihn: »Ich glaube schon.« Die Szene war charakteristisch für Gaucks Agieren während der Wende. Er war keiner, der die Revolution antrieb, sondern einer, der sich von ihr mitziehen ließ. Er zögerte, fragte sich, wie weit er gehen dürfe. Nicht nur jetzt, bei seinem Eintritt in das Neue Forum, sondern auch, als es darum ging, dort Funktionen zu übernehmen oder sich als Kandidat für ein Volkskammermandat aufstellen zu lassen. Er brauchte seine Zeit dafür und musste sich mit anderen darüber beraten. Etwa mit Heiko Lietz, mit dem Gaucks Wege sich in irgendeiner Form immer wieder kreuzten, vom Studium bis heute. Lietz, ein Bürgerrechtler der ersten Stunde, gehörte auch jetzt wieder zu denen, die vorneweg marschierten. Interessant ist die unterschiedliche Wahrnehmung der beiden Männer über ein gemeinsames Gespräch in diesen Tagen. Lietz erinnerte sich, er habe Gauck damals Mut gemacht und ihm zugeraten, dem Neuen Forum beizutreten. Nur so habe er eine 204 Chance, politisch etwas zu bewirken und zu verändern. Gauck merkte demgegenüber an, dass die Begegnung nicht dazu gedient habe, ihn zu ermutigen. Vielmehr hätten Lietz und er damals den strategischen Beschluss gefasst, dass es keine Zersplitterung der Kräfte geben dürfe und deshalb alle Oppositionellen dem Neuen Forum beitreten sollten.
Irgendwann in diesen Tagen rang Gauck sich dann dazu durch, der neuen politischen Bewegung beizutreten. Als das Neue Forum am 11. November seinen regionalen Sprecherrat wählte, gehörte der populäre Pastor zu den Wunschkandidaten. Dem zehnköpfigen Gremium sollten Personen angehören, »die über jeden Zweifel erhaben« waren. Und Gauck war über jeden Zweifel erhaben. Doch er wollte sich nicht in eine politische Funktion wählen lassen. Sein Platz war in der Kirche, von hier aus wollte er sich engagieren und an den gesellschaftlichen Veränderungen mitwirken. Außerdem gab es einen formalen Grund. Die Pfarrerdienstordnung seiner Kirche verbot ihm eine Funktion in einer
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