Gauck: Eine Biographie (German Edition)
seit zwanzig Jahren mit dieser Aufgabe abmüht. Er hadert mit der Entwicklung: »Die Emotionen wurden immer stärker und die Verzweiflung. […] Einerseits fühlten wir, sie hatten ein Recht darauf zu gehen. Gleichzeitig waren wir gnatzig. […] Wir wollten ja nicht mit Honecker alleine bleiben.«
Im Herbst und Winter 1989 sprießen eine Reihe oppositioneller Organisationen aus dem so lange unfruchtbaren politischen Boden der DDR . Sie heißen Demokratie Jetzt, Neues Forum, Vereinigte Linke und Demokratischer Aufbruch. Die 1946 mit der KPD zwangsvereinigte SPD wird wiedergegründet. Im Leipzig entsteht im Januar 1990 unter den Fittichen der bayerischen CSU eine neue Partei, die Deutsche Soziale Union. Als die Bürgerrechtler der SED offen die Stirn bieten, steht Joachim Gauck abseits des politischen Geschehens. Nach dem Abschluss des von ihm organisierten Kirchentages im Sommer 1988 und den familiären Erschütterungen ist er in einer Phase der Neuorientierung. Heute würde man Midlife-Crisis dazu sagen.
In den zurückliegenden Monaten hat er kirchliche Fort 191 bildungskurse am evangelischen Seelsorgeseminar in Halle besucht und daran gearbeitet, seine seelsorgerische Kompetenz auszubauen. Er will sich einer neuen Aufgabe zuwenden, nachdem der Kirchentag vorbei ist und er sein Amt als Jugendpastor aufgegeben hat. »Wenn die Wende nicht gekommen wäre, hätte ich diese neue Richtung in meiner Arbeit ausgebaut und intensiviert«, erzählt er später über diese Phase seines Lebens. »Die Teilnahme an der Weiterbildung am Seelsorgeseminar gab mir völlig neue Impulse – persönlich wie für die Gemeindearbeit. Ich hatte eine inspirierende Zeit, ein neuer Schwerpunkt tat sich auf.« Zum Leiter des Seminars, dem fast gleichaltrigen Klaus-Dieter Cyranka, der sein Vorgänger als Stadtjugendpastor in Rostock war, hat Gauck Vertrauen. Er führt lange, intensive Gespräche mit ihm, in denen es auch um seine eigene Verfassung geht, um eine Standortbestimmung in einer persönlichen Krisenzeit.
Als Gauck Anfang Oktober von seinem letzten Seelsorgekurs in Halle nach Rostock zurückkehrt, wird in Leipzig demonstriert. An der Leipziger Nikolaikirche treffen sich seit einiger Zeit regelmäßig protestierende Bürger. Am Anfang sind es weniger als tausend Menschen gewesen, die hier »Wir wollen raus!« und Ähnliches gerufen haben. Am 9. Oktober erwachsen daraus die Leipziger Montagsdemonstrationen, die alles verändern. Von da an protestieren in der Messestadt jede Woche Zehntausende gegen den SED -Staat. An der Ostsee geht noch niemand auf die Straße. Die Rostocker sind, wie andere auch, noch nicht so weit, sich gegen die SED -Herrschaft zu erheben. 192
Der Revolutionspastor
Erst Mitte Oktober tritt Joachim Gauck als Akteur auf die Bühne der Herbstrevolution von 1989. In seinen Memoiren kann man dazu lesen: »Wie lange hatte ich auf eine Veränderung gewartet – und als sie sich schließlich anbahnte, war ich innerlich ganz woanders. […] Ich war wenig nach außen, aber stark nach innen gerichtet.«
Sein Rostocker Amtsbruder und Hausnachbar, Henry Lohse hat zwei Wochen zuvor zusammen mit anderen eine Fürbittandacht in der Rostocker Petrikirche gehalten, um für Leipziger Demonstranten zu beten, die inhaftiert worden sind. Die Resonanz auf die Andacht ist so groß, dass Lohse sie eine Woche später wiederholt. Diesmal ist der Andrang so überwältigend, dass die Veranstaltung in das größte Gotteshaus der Stadt, die Marienkirche, verlegt wird. Dreitausend Menschen drängen sich am 12. Oktober in dem mächtigen Backsteinbau zusammen, der nur tausendzweihundert Sitzplätze hat. Es sind keineswegs nur Christen, sondern Bürger, die das Gefühl haben, dass endlich etwas passieren muss.
Nach dieser Veranstaltung spricht Henry Lohse mit Joachim Gauck und bittet ihn, bei der geplanten dritten Fürbittandacht an seiner Stelle die Predigt zu halten. Er selbst will an diesem Tag eine lange geplante Fahrt nach Berlin antreten. Lohses spätere Erklärung, auf Gauck zuzugehen: »Er war dafür prädestiniert, weil er durch den Kirchentag Erfahrungen mit großen Menschenmengen hatte und im Umgang mit staatlichen Stellen.« Dietlind Glüer, eine Mitarbeiterin der evangelischen Kirche und zentrale Figur bei der Gründung des Neuen Forums in Rostock, trägt in diesen Tagen dieselbe Bitte an Gauck heran. »Ich dachte, jetzt muss ein Mensch reden, der die Leute ansprechen kann. Wir 193 waren froh, dass wir einen solchen Menschen
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