Gauck: Eine Biographie (German Edition)
neuen. Mancher von uns hat Angst vor altem Stolz und altem Geld im Westen. Andere sehnen sich nach freier Selbstbestimmung. Wir wissen, was wir hassen, aber wir haben Schwierigkeiten, genau zu sagen, was wir lieben.«
30 Mit Willy Brandt in der Rostocker Marienkirche
Am Abend durfte Gauck zusammen mit dem Ex-Kanzler in einer Talk-Runde der ZDF -Sendung »Kennzeichen D« auftreten. Sein Bekanntheitsgrad stieg damit noch einmal sprunghaft, auch über Rostock hinaus. In der Sendung saß auch Wolfgang Schnur, sozusagen in der ersten Reihe. Er war als Vertreter der neuen Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch eingeladen worden. Obwohl der Elite- IM ursprünglich den Auftrag des MfS hatte, die Gründung des Demokratischen Aufbruchs zu verhindern, war er am 29. Oktober mit großer Mehrheit zu dessen Vorsitzenden gewählt worden. Der Anwalt mit den unterschiedlichen Identitäten war während der Revolution ständig im Zentrum des Geschehens anzutreffen. Zwei Tage zuvor, als in Leipzig die MfS -Bezirksverwaltung besetzt wurde, war er 214 vor Ort und redete mit einem Megaphon der Volkspolizei beruhigend auf die Demonstranten ein. Am Tag nach der ZDF -Sendung war er in Ost-Berlin mit dabei, als sich im Dietrich-Bonhoeffer-Haus der Zentrale Runde Tisch der DDR konstituierte.
Gaucks Fernsehauftritt im ZDF folgten bald weitere. Drei Wochen später, am 28. Dezember, war er als Vertreter des Neuen Forums beim »Donnerstagsgespräch« im DDR -Fernsehen zu sehen. Erstmals waren dort Vertreter der Opposition eingeladen. Gauck und die anderen Teilnehmer wurden von den Moderatoren sofort mit einem aktuellen Ereignis konfrontiert. Am Vortag war im Treptower Park in Berlin das sowjetische Ehrenmal mit nationalistischen Parolen beschmiert worden. Ob jetzt nicht alle politischen Kräfte zusammenstehen sollten, um den Menschen die Angst vor dem Erstarken des Rechtsradikalismus zu nehmen, wollte man von Gauck wissen. Der konterte gelassen, die Leute hätten keine Angst vor den Neonazis, sondern vor dem Wiedererstarken der Stasi.
Die Geheimpolizei in Rostock hatte mittlerweile ihre Illusion, Gauck könne einer der ihrigen werden, längst beerdigt. Sie maß Gauck in diesen Tagen eine »Schlüsselrolle« unter den evangelischen Amtsträgern zu, die »die Stimmung gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane anheizen«. Noch einmal planten die MfS -Offiziere Maßnahmen gegen ihn: »Der exponierte Pastor Gauck ist offensiv mit der Zielstellung zu bearbeiten, seine antisozialistischen Pläne, Absichten und Maßnahmen zu entlarven und seinen Einfluss zurückzudrängen.« Möglicherweise war eine Begegnung, die Gaucks Frau Hansi in diesen Tagen hatte, Teil dieser Offensive. »Einmal kam ein Mann. Er öffnete seinen Mantel, zeigte mir seine Waffe und fragte nach meinem Mann. Als ich sagte, er sei nicht zu Hause, ging er wie 215 der. Das ist nur ein Beispiel. […] Ich hatte dauernd Angst, dass meinem Mann etwas Schlimmes passiert, er einfach irgendwie weggeräumt wird, wie wir das von der Stasi kannten.«
Trotz ihrer Angst war auch Hansi Gauck von den Ereignissen elektrisiert: »Die Wendezeit nach der DDR war das Erlebnis meines Lebens!« Sie engagierte sich früh im Neuen Forum und half dabei, Namen und Adressen von Interessierten zu erfassen. Im Auftrag von Dietlind Glüer besuchte sie Mitglieder, um festzustellen, ob diese geeignet und bereit waren, Verantwortung in der Oppositionsbewegung zu übernehmen. »Sie hatte ein Gespür für Leute«, erinnerte sich Glüer. Wie eine Mitgliederwerbung für das Neue Forum damals ablief, notierte ein von Hansi und Joachim Gauck in Gemeinschaftsarbeit rekrutiertes Mitglied des Neuen Forums. »Auf meine Frage durch die Sprechanlage meldete sich eine Frauenstimme: ›Mein Name ist Gauck, kann ich Sie mal sprechen?‹ Es war Hansi Gauck, die als Werberin für das Neue Forum arbeitete. ›Mein Mann lässt fragen, ob Sie die Gründung eines Neuen Forums in Warnemünde übernehmen würden. Wenn Sie einverstanden sind, kommen Sie bitte morgen um 15.00 Uhr in die Michaeliskirche.‹« Der Mann folgte der Aufforderung und traf am vereinbarten Treffpunkt auf Joachim Gauck: »›Ich bin Jochen Gauck. Ich bin froh darüber, dass Sie in Warnemünde das Neue Forum auf den Weg bringen wollen, damit wir in Rostock komplett sind.‹ Darauf drückte er mir herzlich und fest die rechte Hand und seine Frau mir etwa 15 Zettel in die Linke: ›Das sind die Warnemünder, die wir bisher im Briefkasten von Nathan Frank gefunden
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