Gauck: Eine Biographie (German Edition)
haben. Laden Sie alle ein, am besten zu sich nach Haus. Und hier ist noch der letzte Aufruf des Neuen Forums und hier so was wie ein vorläufiges Programm. Mehr haben wir nicht. Ach ja, und 216 hier unterschreiben Sie bitte Ihre Beitrittserklärung, und da sind noch welche für Ihre Gründungsversammlung. Ich wünsche Ihnen viel Glück.‹«
Deutsche Einheit?
Im November rückten im Neuen Forum Diskussionen um die politische Zukunft der DDR in den Vordergrund. Was sollte geschehen, wenn das SED -Regime tatsächlich beseitigt war? Welche Wirtschaftsverfassung sollte der Staat dann haben? Marktwirtschaft? Sozialistische Planwirtschaft? Man diskutierte über einen dritten Weg zwischen den bestehenden Systemen. Wunschdenken dominierte. Am besten wäre es, neutral zu sein, ohne Militär. Gut wäre eine Konföderation mit der Bundesrepublik. Die deutsche Einheit stand 1989 nicht auf der Tagesordnung des Neuen Forums. Das lag außerhalb des Denkens der Bürgerrechtler. Dietlind Glüer sagte später: »Ich konnte mir das nicht vorstellen.« Christoph Kleemann bekam einen »Heidenschrecken«, als der Gedanke einer baldigen Wiedervereinigung im Gespräch auftauchte.
Viele im Neuen Forum träumten von einer gerechteren, sozialeren und freieren DDR . Mit dem Westen verbanden sie eher Bilder von sozialer Ungerechtigkeit, höheren Mieten, steigenden Lebensmittelpreisen und Arbeitslosigkeit. Das marktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik stellte vor diesem Hintergrund für die meisten von ihnen keine gangbare Alternative dar. Eine Gruppe Rostocker Pastoren gründete die »Bürgerinitiative für eine bessere sozialistische Gesellschaft«. Ein reformierter Sozialismus erschien ihnen als der anzustrebende Weg. Mit dieser Zukunftsvision entfernten sie sich von denjenigen, die die Revolution auf der Straße vorantrieben. Dort skandierten 217 die Menschen bald: »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr.« Mit ihrer Kernidee, einen besseren Sozialismus zu erfinden, lag die Mehrheit derjenigen, die im Neuen Forum mitmachten, inhaltlich auch auf einer ganz anderen Linie als Joachim Gauck, der sich in dieser Zeit politisch von einem großen Teil seiner Rostocker Amtsbrüder und Amtsschwestern entfernte. »Hier dividierte es sich auseinander«, beobachtete Dietlind Glüer.
Selbst die engsten Wegbegleiter und Freunde Gaucks konnten ihm am Anfang nicht folgen, als er begann, öffentlich über die deutsche Einheit nachzudenken. »Jochen, was soll das?«, fragten sie ihn. »Wir müssen doch in unserem Staat klarkommen!« Gauck konnte sich im Gegensatz zu seinen Mitstreitern eine Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR sehr gut vorstellen. Er hatte begriffen, dass es den Menschen nicht um eine Konföderation ging. Sie wollten keine reformierte DDR . Sie wollten die Einheit. Ende November protestierten bei der Leipziger Montagsdemonstration zweihunderttausend Menschen. Der Ruf »Deutschland einig Vaterland« dominierte – ironischerweise eine Zeile aus der ersten Strophe der DDR -Nationalhymne. Auch in Rostock tauchten erste Plakate und Banner mit Parolen dieser Art auf. Gauck machte sich das in der für ihn typischen Art zu eigen und beschied seinen politischen Weggefährten: »Ihr seid nicht auf der Höhe der Zeit.« Sehr früh, als Erster im Neuen Forum in Rostock, trat Gauck für die Wiedervereinigung ein. Als das von seinen Widersachern als »rechte Meinung« disqualifiziert wurde, hielt er dagegen: »Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links, wir sind geradeaus!« Er variierte die wichtigste Parole der Herbstrevolution »Wir sind das Volk« mit dem Satz »Wir sind ein Volk«. Anfänglich war das eine Minderheitsmei 218 nung im Neuen Forum, doch er vertrat sie nachhaltig mit all seiner Energie und Wortmacht.
Mitte Dezember stand das Thema deutsche Einheit auf der Tagesordnung einer Rostocker Mitgliederversammlung des Neuen Forums. Geschickt argumentierte Gauck mit dem demokratischen Argument des Mehrheitswillens für seine Position: »Zahlreiche ehrliche, informierte und engagierte Menschen machen sich z. Zt. Gedanken, wie Idee und Staatsform des Sozialismus zu retten oder neu zu errichten sei. Zur selben Zeit verweigert ein großer Teil des Volkes seine Mitarbeit dabei und praktiziert stattdessen Elemente deutscher Einheit. Ich frage mich, ob es angebracht ist, diesen Einheitswillen zu diskreditieren oder zu zensieren. Im Neuen Form sollten wir das unterlassen.« Am Ende setzte Gauck sich
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