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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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beobachtete Harald Terpe, der sich ein solches Auftreten selbst nicht zutraute. Donnerwetter, dachte er mit Hochachtung und fühlte sich durch Gauck »ermutigt«.
    Geradezu dreist verhielt Gauck sich bei einer anderen Begebenheit. Kurz nachdem die Mauer gefallen war, kamen Ratsherren aus Bremen, Rostocks Partnerstadt, zu Besuch. Sie wollten sich persönlich ein Bild vom Umbruch im Osten machen und hatten sich dazu mit den »alten Genossen« in einem Hotel in Warnemünde verabredet. Dagegen muss man etwas unternehmen, dachte Dietlind Glüer, die von dem Treffen erfahren hatte. Sie rief Joachim Gauck an. Der war empört. »Ja, das geht doch überhaupt nicht!« Die beiden stiegen ins Auto und fuhren nach Warnemünde. Mit temperamentvollem Auftritt und wehendem Mantel platzte Gauck in das Treffen und stellte sich vor: »Meine Herren, Sie reden hier mit den Falschen – wir sind vom Neuen Forum und erwarten Sie nachher in der Petrikirche.« Der Auftritt machte Eindruck auf die Westdeutschen. Ein paar Stunden saßen sie mit Gauck und Glüer in Rostock zusammen.
    Gauck selbst erzählte später eine andere bezeichnende Episode. Für eine geplante Aktion außerhalb der Stadt versammelten sich die Teilnehmer mit etwa zwanzig Autos auf dem St.-Georg-Platz in der Hansestadt. Dort befand sich die Zentrale der Deutschen Volkspolizei. Die Volkspolizis 211 ten befürchteten das Schlimmste. Sollte etwa nach der Stasizentrale auch das Hauptquartier der Polizei besetzt werden? Es kam zur aufgeregten, in der Erinnerung von Gauck »ängstlichen« Anfrage bei den bekannten Führungsfiguren des Neuen Forums. Gauck weiter: »Bei einem späteren Gespräch über diese Situation habe ich voller Verwunderung die Offiziere dort gefragt: ›Wie kommen sie denn darauf, dass wir uns an der Volkspolizei vergreifen würden? Wir haben doch gar nicht die Absicht. Wir wollen doch kein Chaos, und wir trauen es uns doch gar nicht zu. Wir sind doch völlig unbewaffnet.‹« Die Polizeioffiziere reagierten entgeistert: »›Aber Herr Gauck, wenn sie die Staatssicherheit besetzen konnten, dann war es ihnen doch ein Leichtes, die Volkspolizei zu besetzen.‹ Daran hatten wir überhaupt nicht gedacht.«
    In diesen Monaten des Umbruchs hetzten die Bürgerrechtler des Neuen Forums von einem Ereignis zum nächsten, alles war wie ein Rausch. Tagsüber gingen die Akteure ihren normalen Berufen nach, wie Harald Terpe als Arzt. Abends wurde in Arbeitsgruppen wild und endlos diskutiert. Besonders bewegte die Freizeitrevolutionäre die Frage: »Sind wir unterwandert?« Die Angst, die Stasi könnte sich in die junge Bewegung einschleusen, war allgegenwärtig. Die Sorge war nur allzu berechtigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das MfS das Neue Forum bereits in Teilen unterwandert: »Bisher gelang es in Rostock, 12 IM in Wohngebietsgruppen einzuführen. Davon sind zwei Gruppensprecher und einer stellvertretender Gruppensprecher.«
    Gauck musste seine Predigten vorbereiten, nahm an Verhandlungen mit dem Rat der Stadt teil, gab als Sprecher des Neuen Forums Interviews und fuhr zu Sitzungen der »Zentrale« nach Berlin. Am 6. Dezember stand ein ganz besonderes Ereignis auf dem Programm. Ex-Bundeskanzler Willy 212 Brandt kam zu Besuch nach Rostock. Die Einwohner der Stadt bereiteten dem Sozialdemokraten einen triumphalen Empfang. Vierzigtausend Menschen strömten in die Rostocker Innenstadt, um ihn zu sehen. Joachim Gauck hielt in der »bis auf den letzten Quadratzentimeter« gefüllten Marienkirche die Laudatio auf den Ehrengast, der auf seinem Weg durch die Kirche von allen Seiten mit Blumen überschüttet wurde. »Lieber Willy Brandt, da begegnen wir uns 213 nun, ›wir, das Volk‹ und Sie, der große Politiker«, begann Gauck seine Rede. Er erinnerte an Brandts Empörung beim Mauerbau, an seinen Kniefall in Warschau und seinen erzwungenen Rücktritt, als sich herausstellte, dass sein enger Mitarbeiter Günter Guillaume ein langjähriger DDR -Spion gewesen war. Gauck griff das auf mit den Worten: »Dein Blick, als diese graue Kreatur in Deiner Nähe enttarnt wurde. Da war Deine Enttäuschung ein Teil von unserer Wut. Dieselbe Mafia, die Dir zusetzte, hat uns jahrzehntelang verfolgt, überwacht, gedemütigt, geknebelt.« Bevor er das Rednerpult für Brandt freigab, fasste er in seiner unnachahmlichen Art die Stimmungslage der Rostocker im Dezember 1989 zusammen: »Wir sind jetzt richtig durcheinander. Da ist so viel Freude: Die Ketten fallen! Aber da ist auch Angst vor dem

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