Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Union angehörten. In den letzten Wochen war Schnur Seite an Seite mit Helmut Kohl im Volkskammerwahlkampf aufgetreten. Der Kanzler hatte die Vorsitzenden der drei Parteien seines Wahlbündnisses, Wolfgang Schnur ( DA ), Lothar de Maizière ( CDU ) und Hans Wilhelm Ebeling ( DSU ), überall mit dem Standardsatz angekündigt: »Das sind Männer, die Ihr Vertrauen verdienen.« Schnur sah sich bereits als künftiger Ministerpräsident der DDR . Sein Sturz, kurz vor dem Ziel, war ebenso steil wie sein Aufstieg. Joachim Gauck trug aktiv mit dazu bei.
Schon am 3. Januar ging beim Zentralen Runden Tisch in Berlin ein anonymes Schreiben ein, in dem mitgeteilt wurde, dass Schnur seit mindestens 1971 als Inoffizieller Mitarbeiter für die MfS -Außenstelle in Rostock tätig war. Beim Geschäftsführer des Demokratischen Aufbruchs, Karl-Ernst Eppler, mehrten sich in den nächsten Wochen Hinweise, dass an dem Schreiben mehr dran sein könnte, als 225 ihm lieb war. »Die Kritik an Schnur nahm konkrete Formen an.« Eppler war einer der Gründer des Demokratischen Aufbruchs in Rostock und zugleich Mitglied des Zentralvorstandes. In seiner Not wendete er sich an Joachim Gauck – man kannte sich in der kleinen politischen Szene in Rostock – und teilte ihm seine Befürchtungen mit. Gauck nahm daraufhin Kontakt mit dem Kirchenjuristen Manfred Stolpe auf, einem der kommunikativen Strategen in der evangelischen Kirche der DDR . Es war in Kirchenkreisen ein offenes Geheimnis, dass Stolpe enge Kontakte zum Staat und zur Partei pflegte. Einige Monate später sollte sich herausstellen, dass er darüber hinaus auch zur Staatssicherheit ein enges Verhältnis gepflegt hatte. Joachim Gauck wunderte sich im Nachhinein: »Ich hätte nie gedacht, dass Stolpe, so wie er es getan hat, Stasikontakte akzeptierte.«
Damals stellte Stolpe sich voll hinter Schnur, der nicht nur ein Vertrauensanwalt der Kirche war, sondern auch verschiedene kirchliche Ehrenämter bekleidete. Epplers Zweifel wurden dadurch vorübergehend gemindert.
Kurz vor der Wahl kam Joachim Gauck spätabends in Epplers Büro und teilte dem Mann vom Demokratischen Aufbruch mit, dass im Rostocker Stasiarchiv Papiere gefunden wurden, die Schnurs IM -Tätigkeit belegten. Nicht weniger als achtunddreißig Aktenordner existierten über Schnur, alias »Torsten«, alias »Dr. Schirmer«. Es war die erste große Enthüllung über die Stasiverstrickung eines der neuen Spitzenpolitiker der DDR . Eilig trat der Vorstand des Demokratischen Aufbruchs zusammen, um die Vorwürfe zu klären. Beinahe gelang es dem beredten Schnur, seine Vorstandskollegen zu überzeugen, dass es sich um eine substanzlose Kampagne gegen ihn handele. Eppler: »Die Verteidigungsrede von Wolfgang Schnur vor dem gesamten Vorstand überzeugte die Vorstandsmitglieder von seiner Un 226 schuld. Gegen mich richtete sich eine eisige Front.« Doch dann kam Gauck in Begleitung der Leute in die Sitzung, die die Schnur-Akten entdeckt hatten: »Mit dem Eintreffen von Joachim Gauck und Vertretern des Unabhängigen Untersuchungsausschusses mit den brisanten Dokumenten konnten wir den behaupteten Sachverhalt beweisen.« Gauck erinnerte sich daran, wie entsetzt der Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs, Pastor Rainer Eppelmann, bei anderer Gelegenheit auf die Enthüllung reagierte: »Bruder Gauck, das kann nicht sein, das ist mein Freund!« Der Demokratische Aufbruch gab anschließend eine Pressekonferenz. Die Pressesprecherin – sie hieß Angela Merkel – wirkte aufgelöst, als sie die Stasiverstrickung von Schnur erklären musste. Später sagte sie: »Schnur war die größte Enttäuschung meines Lebens.« Drei Tage vor der Volkskammerwahl trat Wolfgang Schnur von allen politischen Ämtern zurück.
Am Abend des 18. März 1990 wurde abgerechnet. Für Joachim Gauck waren die ersten freien Volkskammerwahlen ein bewegender Moment. Als er seine Stimme abgegeben und das Wahllokal verlassen hatte, traten ihm Tränen in die Augen. »Ich musste fünfzig Jahre alt werden, um erstmals freie, gleiche und geheime Wahlen zu erleben […]. In diesem Moment wusste ich auch: Du wirst nie, nie eine Wahl versäumen.« Das Wahlergebnis war für das Bündnis 90 ein Desaster. Nur 2,79 Prozent der Wähler gaben der Bewegung ihre Stimme. Es war die Quittung für den Kurs der Führung des Neuen Forums. Zu weit hatte sie sich mit ihren Visionen einer zwar reformierten, aber weiterhin sozialistischen DDR von den Wünschen und Zielen der Bevölkerung
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