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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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-Mitarbeiter hatten sich in unvorstellbarer Weise überall in den Spitzen der alten und neuen Parteien sowie in sonstigen öffentlichen Einrichtungen eingenistet. Man konnte zeitweilig den Eindruck gewinnen, die politi 231 sche Landschaft der DDR nach der Wende sei ein Marionettentheater, bei dem der greise ehemalige Stasichef, Erich Mielke, aus seinem Rollstuhl die Puppen tanzen ließ. Neben Wolfgang Schnur, dem Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, hatte auch der Vorsitzende der neu gegründeten SPD in der DDR , Ibrahim Böhme, seit 1969 unter verschiedenen Decknamen als IM an das MfS berichtet. Er trat am 2. April 1990 von seinen Ämtern zurück. Schnur wie Böhme hatten sich jeweils bereits als der künftige Ministerpräsident der DDR gesehen. Am Jahresende stellte sich dann heraus, dass auch der Wahlsieger, Ministerpräsident Lothar de Maizière ( CDU ), Kontakte zum Mielke-Ministerium gepflegt hatte. In der letzten Sitzung der Volkskammer am 28. September wurde öffentlich, dass nicht weniger als sechsundfünfzig Abgeordnete der Volkskammer stasibelastet waren. Stundenlang stritten sich die Volkskammerabgeordneten damals hochemotional darüber, ob es legitim war, die Namen der betreffenden Abgeordneten zu verlesen. Der Prüfungsausschuss weigerte sich, unter Verweis auf seine Schweigepflicht, das zu tun. Schließlich wurde der Beschluss gefasst, die Namen der fünfzehn am meisten Belasteten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verlesen. Alle Genannten wiegelten ab, es sei alles nicht so schlimm gewesen, rechtfertigten sie sich. Kein Wort des Bedauerns, kein Gefühl für das eigene Versagen. Nur der letzte Mann erklärte mit bebender Stimme: »Ich kann leider nicht so auftreten wie meine Kollegen […] Ich wünschte mir sehr, ich könnte sagen, ich sei kein IM gewesen. Aber es war nicht so.« Es wurde still in der Volkskammer. Joachim Gauck stand auf, ging zu dem Mann und reichte ihm die Hand. »Nicht wegen damals«, sagte er zu ihm, »aber wegen jetzt.«
    Die Frage, was aus Mielkes Unterdrückungsapparat, seinen Mitarbeitern, dem weitverzweigten Immobilienimpe 232 rium und den erheblichen Vermögenswerten des MfS werden sollte, war eines der großen Themen der Nachwendezeit und wurde zum Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen. Die öffentliche Debatte drehte sich allerdings fast ausschließlich um die Frage, was mit den gigantischen Aktenbergen geschehen sollte. Die Hinterlassenschaft des MfS umfasste 1,3 Millionen Fotos, tausende von Filmen, Tonträger, Magnetbänder, Geruchsproben, die man teilweise an den Geschlechtsteilen abgenommen und in Einweckgläsern konserviert hatte. Vor allem aber sechs Millionen Personenakten. Hundertachtzig Aktenkilometer. In diesen Papierbergen war das Leben von fast jedem vierten DDR -Bürger und das von zwei Millionen Bundesbürgern aus Sicht der Staatssicherheit dokumentiert. Was sie über die SED und die Stasi gesagt hatten. Wann sie Besucher empfangen und welche Bücher sie gelesen hatten. Im Extremfall wann und mit wem sie Geschlechtsverkehr gehabt hatten.
    Dabei existierten drei gegnerische Lager, die miteinander darum rangen, ihre Interessen in Bezug auf das Stasierbe durchzusetzen. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR kämpfte zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich dafür, das »Aktenerbe« der Stasi zu bewahren und den Opfern der Geheimpolizei ihre Akte zugänglich zu machen. Allerdings gab es im Bürgerrechtslager auch einige, die für eine Vernichtung der Akten plädierten. Zum einen bestand die Sorge, dass man mit der deutschen Einheit »vom Regen in die Traufe« kommen könne. Wer garantiere, dass die Akten künftig nicht von westlichen Geheimdiensten verwendet werden würden? Außerdem prophezeiten einige, dass es bei einer Öffnung der Stasiarchive zu Chaos und Gewaltakten kommen würde.
    Das Interesse der ehemaligen Stasimitarbeiter, unterstützt von den alten Systemträgern, war demgegenüber eindeu 233 tig. Sie wollten die Spuren der eigenen Vergangenheit tilgen. Nur so konnte es ihnen gelingen, im wiedervereinigten Deutschland nahtlos an die alte Karriere anzuknüpfen. Es wird sich nicht mehr rekonstruieren lassen, wie viele Dossiers 1989/90 durch Mitarbeiter des MfS vernichtet oder manipuliert wurden. Es waren jedenfalls große Mengen.
    Die Bundesregierung schließlich hätte die Akten am liebsten für Jahrzehnte im Bundesarchiv weggeschlossen oder gleich vernichtet. Ihr entscheidendes Motiv war die Befürchtung, dass sich in den heimlichen Aufzeichnungen

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