Gauck: Eine Biographie (German Edition)
entfernt. Am Abend herrschte Katerstimmung. Nur Gauck persönlich hatte Grund zur Freude. Es gab bei dieser Wahl keine Fünf-Prozent-Klausel, so dass das Bünd 227 nis 90 mit zwölf Abgeordneten in die Volkskammer einzog. Der Zwölfte auf der Liste war Joachim Gauck. Sein Urteil für die Gründe des schlechten Abschneidens des Bündnis 90 war ebenso zutreffend wie gnadenlos: »Die grämlichen Kommentare einer Bärbel Bohley haben das Neue Forum um unzählige Wählerstimmen gebracht […] Offensichtlich hatte das Volk Misstrauen und so geht das Wahlergebnis auch in Ordnung. Die Bevölkerung war damals total verunsichert, und eines wollte sie nicht: länger Versuchsobjekt sein für diejenigen, die ideologische Positionen ausprobierten […] Sie wollten nicht wieder abgeschrieben sein, sie wollten die D-Mark, und sie wollten teilhaben an dem westlichen politischen System.« 228
Abgesang
Diestel hat seine Qualifikation entgegen den starken Worten zu Beginn seiner Amtszeit nicht unter Beweis stellen können.
Gauck über DDR -Innenminister
Peter-Michael Diestel
Ich habe einen großen aktiven Anteil an dieser Feindschaft.
Diestel über sich und Gauck
Ein Gauck und ein Diestel – das ging gar nicht.
Geigers Sekretärin Silvia Tzschentke
Volkskammerabgeordneter
Als sich am 5. April 1990 die letzte Volkskammer der DDR konstituierte, begann das zweite Berufsleben Joachim Gaucks. Zum ersten Mal in seiner Geschichte war das Parlament der DDR frei gewählt worden, und ein neuer Geist zog in den Plenarsaal im Palast der Republik ein, wo seit 1949 ein Scheinparlament agiert hatte. »Ballast« der Republik nannten ein paar Satiriker das Gebäude im Herzen Berlins darum auch.
In den sechs Monaten bis zur Wiedervereinigung erließ das letzte DDR -Parlament Gesetze wie am Fließband. Beschlussvorlagen türmten sich vor dem frisch gewählten Abgeordneten auf. Wie sollte man die Gesetzesvorlagen beurteilen ohne jegliches juristisches Wissen, ohne Erfahrung mit den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie? 229 Gauck bereitete es Kopfzerbrechen, dass er »von so vielem wusste, was er nicht wusste […] Es war unendlicher Stress, viele Dinge rauschten nur so vorbei.« Die Konzentration auf die neue Aufgabe war so groß, dass der Parlamentsnovize aus Rostock beinahe vergaß, seinen bisherigen Arbeitgeber darüber zu informieren, dass er für eine gewisse Zeit nicht als Pastor zur Verfügung stehen würde. Mit Schreiben vom 3. April bat er um eine »unbezahlte Freistellung bzw. Beurlaubung«. Dabei ging er davon aus, dass seine Zeit in der Volkskammer begrenzt sein würde. »Möglicherweise kann ich bereits im kommenden Jahr (falls die Volkskammer dann ihre Arbeit beendet hat) wieder in den kirchlichen Dienst zurückkehren […] Nach meinen Möglichkeiten würde ich gerne in der Gemeinde gelegentlich predigen.« Seine Landeskirche entsprach seinem Wunsch und versetzte ihn am 13. August 1990 in den »Wartestand«, was einer unbezahlten Freistellung entsprach.
32 Volkskammerausweis 230
Am liebsten hätte Joachim Gauck im Ausschuss »Deutsche Einheit« der Volkskammer mitgearbeitet. Das war sein Thema während der Herbstrevolution und im Wahlkampf gewesen. Doch der Wunsch blieb unerfüllt, weil sich das Bündnis 90 in der Volkskammer mit den Grünen zu einer Fraktion zusammengeschlossen hatte und Gauck unter deren zwanzig Abgeordneten ein Hinterbänkler war. Andere, die das Wort führten, besetzten die beliebteren Ausschüsse. Für den Rostocker Abgeordneten blieb notgedrungen nur die Mitarbeit im Innenausschuss übrig.
Der Nachlass des MfS
Erst 1990 offenbarte sich das Wesen des Ministeriums für Staatssicherheit der Öffentlichkeit komplett. Im Laufe des Jahres wurden ständig neue, erschütternde Details über die Praktiken der Geheimpolizei der DDR bekannt. Die DDR -Bürger waren entsetzt. Im Juni wurden Pläne der Stasi aufgedeckt, Isolierungslager für oppositionelle DDR -Bürger einzurichten. Im selben Monat wurde die Zusammenarbeit zwischen dem MfS und Mitgliedern der bundesdeutschen Terrororganisation Rote Armee Fraktion bekannt. Die Stasi hatte einer Reihe von Terroristen Unterschlupf in der DDR gewährt. Mit neuer Identität versehen, hatten sie jahrelang unerkannt mitten unter der DDR -Bevölkerung gelebt und gearbeitet.
Der Gipfel der Enthüllungen war die Erkenntnis, dass der Stasikrake unbekannte Nachkommen an fast allen wichtigen Stellen der jungen Demokratie hinterlassen hatte. Ehemalige MfS
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