Gauck: Eine Biographie (German Edition)
der Stasi auch unerwünschte Informationen über bundesdeutsche Politiker befinden könnten. Das Bundeskabinett beschloss vor diesem Hintergrund am 28. März 1990, dass Stasiakten über West-Politiker grundsätzlich vernichtet werden sollten. Innenminister Wolfgang Schäuble war »von vornherein für einen möglichst restriktiven Um- und Zugang zu den Stasi-Akten. […] Manchmal habe ich darüber nachgedacht, ob man sie nicht unbesehen alle vernichten könnte.« Neunhundertfünfundsiebzig laufende Meter Akten, die durch Stasiüberläufer in den Besitz bundesdeutscher Geheimdienste gelangt waren, wurden geschreddert. Die Konferenz der bundesdeutschen Innenminister kommentierte das mit den Worten: »Stasi-Schmutz gehört in den Reißwolf.«
Die politische Verantwortung für die brisante Stasiauflösung übertrug die letzte DDR -Regierung durch Beschluss vom 16. Mai 1990 dem Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Peter-Michael Diestel. Der agierte bei der Erfüllung dieser Aufgabe von Beginn an unglücklich. Das Hamburger Landgericht stellte 1994 fest, dass Diestel zumindest die politische Verantwortung für die Vernichtung wichtiger Stasiakten während seiner Amtszeit trage, da er nichts dagegen unternommen habe, diese 234 vor dem Reißwolf zu retten. Vor allem aber die Personalpolitik des Innenministers rückte ihn ins Zwielicht und beschädigte seine Glaubwürdigkeit nachhaltig. Ein Sturm der Entrüstung brach los, als bekannt wurde, dass Diestel in sein Beratergremium für die Auflösung der Staatssicherheit ausgerechnet Markus Wolf, den langjährigen Spionagechef der DDR und ersten Stellvertreter von Stasichef Erich Mielke, berufen wollte.
Doch Diestel hatte nicht nur Gegner, sondern auch starke Verbündete. Der DDR -Ministerpräsident Lothar de Maizière hielt an seinem umstrittenen Innenminister in Nibelungentreue bis zum Ende seiner Regierungszeit fest. Als im Dezember 1990 bekannt wurde, dass auch de Maizière mit der Stasi kooperiert hatte, wurde klar, warum. Es war dem Ministerpräsidenten mehr als recht, dass sein Innenminister so pfleglich mit den alten Stasikadern umging. Genauso wichtig: Der markige Diestel genoss auch in Bonn große Unterstützung. Dass der ostdeutsche Innenminister dabei behilflich gewesen war, die in der DDR untergetauchten RAF -Terroristen zu enttarnen und zu verhaften, hatte ihm einen Stein im Brett der Bundesregierung eingebracht. Vor allem aber, dass Diestel die Intentionen von Kohl und Schäuble teilte, die Stasiakten tunlichst zu vernichten, machte ihn zu ihrem wichtigsten Verbündeten in dieser Frage.
Der Sonderausschuss der Volkskammer
Die Volkskammerabgeordneten waren von Diestels Wirken mehr als irritiert und beschlossen am 7. Juni, einen »Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS / AfNS « einzusetzen. Zu seinem Vorsitzenden wurde am 21. Juni 1990 Joachim Gauck gewählt. Bis zu diesem Zeitpunkt war er nicht als Stasiexperte in Erscheinung getreten. Weder hatte 235 er an der Besetzung einer Stasizentrale teilgenommen noch an der Abwicklung des MfS mitgewirkt. Er hatte keine Rede zu diesem Thema gehalten und sich auch nicht programmatisch zur den komplexen Fragen geäußert. Wie schon während der friedlichen Revolution im Herbst des vergangenen Jahres fand auch diesmal die Aufgabe Gauck und nicht umgekehrt. Als er anfing, sich intensiv mit der Staatssicherheit zu beschäftigen, war das Ringen um den Nachlass des MfS längst im Gange.
Trotz dieses späten Starts entwickelte sich Joachim Gauck innerhalb von drei Monaten zur herausragenden Figur bei der Bewahrung von Mielkes Aktennachlass. Nicht seine Wahl in die Volkskammer, sondern erst die Wahl zum Ausschussvorsitzenden sollte Gaucks Leben endgültig in andere Bahnen lenken. So wie Erich Mielke dafür stand, die Aktenberge der Staatssicherheit erschaffen zu haben, sollte der Name Gauck ein Jahr später in einem Atemzug mit der Institution genannt werden, die das Aktenerbe nach der Wiedervereinigung verwaltete: Gauck-Behörde.
Die Gründe für seine Berufung an die Spitze des Sonderausschusses konnte er sich später selbst nicht recht erklären »Warum gerade ich? Ich weiß es nicht.« Warum seine Fraktion ihn in den Ausschuss entsandte, war einfach zu beantworten. In der kleinen Fraktion von Bündnis 90/Grüne arbeiteten mit Ausnahme von Gauck alle Abgeordneten bereits in ein oder zwei Ausschüssen mit, so dass in diesem Fall die Wahl fast zwangsläufig auf den Abgeordneten aus Rostock
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