Gauck: Eine Biographie (German Edition)
vorliegenden Form Bestandteil des Einigungsvertrages werden. Das sind wir denen schuldig, die im Herbst die Wende herbeigeführt und mit unvergleichlichem Mut die schwerbewaffneten Hochburgen der Stasi mit bloßen Händen eingenommen haben.« Es war ein großer Tag im Arbeitsleben des Ausschussvorsitzenden Joachim Gauck. Stolz erinnerte er sich später an seine damalige Leistung. »Zum ersten Mal in der Politikgeschichte gab es eine Umwidmung des gesamten Archivguts einer Geheimpolizei, die dem Einzelnen und der Öffentlichkeit das Recht eines geregelten Zugangs einräumte. Wir empfanden die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine Sternstunde unseres jungen Parlaments.«
Die Bundesregierung dachte jedoch nicht daran, sich dem Votum der Volkskammer zu beugen. Schäuble, der »diese unsäglichen Akten« am besten vernichtet gesehen hätte, meinte rückblickend: »Die Volkskammer hat, zurückhaltend formuliert, nicht nur weise Beschlüsse gefasst.« Bei der DDR -Regierung traf der bundesdeutsche Innenminister 244 auf mehr Verständnis als bei der Volkskammer. Im Einigungsvertrag vereinbarte Schäuble mit seinem ostdeutschen Verhandlungspartner Günther Krause, das Volkskammergesetz nicht in die Liste der Gesetze aufzunehmen, die nach der Vereinigung weiter gelten würden. Mit anderen Worten, das Gesetz über die Stasiunterlagen, das den DDR -Abgeordneten so sehr am Herzen lag, sollte am Tag der Vereinigung ungültig werden.
Aufstand in Ost-Berlin
Die Volkskammer und die DDR -Bürgerrechtler waren empört. Man wollte zunächst nicht glauben, dass der Volkskammerbeschluss aus der Vorwoche Makulatur sein sollte.
Noch einmal diskutierte das DDR -Parlament am 30. August über die Thematik. Gauck empörte sich vor dem Plenum: »Das Verhandlungsergebnis […] entspricht nicht dem erklärten Willen dieses Hauses. Es ist unverständlich, dass der Wille des Parlaments ohne zwingende Gründe an wichtigen Punkten unberücksichtigt blieb.«
Diese Debatte in der Volkskammer war die wohl emotionalste der gesamten Legislaturperiode. Die Nichtfortgeltung des Volkskammergesetzes im Einigungsvertrag wurde als »demütigend« abgelehnt, die Grenze zur Kompromissfähigkeit sei damit überschritten. Ein SPD -Abgeordneter sprach von einem »Unterwerfungsvertrag«, der stellvertretende SPD -Vorsitzende Markus Meckel erklärte, dass der Einigungsvertrag an dieser Frage scheitern könne. Nahezu einstimmig forderte die Volkskammer, dass ihr Gesetz über die Stasiunterlagen nach der Wiedervereinigung fortgelten müsse.
Einen Tag später, am 31. August, paraphierten Wolfgang Schäuble und Günther Krause den Einheitsvertrag, ohne 245 die Diskussion in der Volkskammer aufzugreifen. Es schien, als wären sie blind für die Stimmung im DDR -Parlament. Daraufhin formierte sich eine Koalition fast aller politischen Kräfte der DDR , um sich gegen das rabiate Übergehen ihrer Wünsche zu stemmen. Die Bürgerrechtler, die der DDR den Todesstoß versetzt hatten, traten erneut in Aktion. »Das ist unsere Krake gewesen, die haben wir selbst erwürgt, die wollen wir selbst sezieren und danach analysieren«, formulierte Jens Reich. Am 4. September besetzten vierundzwanzig Bürgerrechtler zum zweiten Mal einige Räume in der ehemaligen Berliner MfS -Zentrale. Unter ihnen der Liedermacher Wolf Biermann, Bärbel Bohley und Katja Havemann. Noch einmal herrschte Revolutionsatmosphäre. Die Besetzer spannten Transparente zwischen den Fenstern: »Besetzt. Die Akten gehören uns«. Wolf Biermann sang aufrührerische Lieder. Einige Tage später traten sie in einen unbefristeten Hungerstreik. Ihre Forderungen waren radikal und gingen weit über das Volkskammergesetz hinaus: Offenlegung der Akten, Entlassung aller Archivare, die schon für das MfS gearbeitet hatten, schließlich: Jedem bespitzelten Bürger sollte seine Akte persönlich ausgehändigt werden.
In kürzester Zeit wurden fünfzigtausend Unterschriften für die Fortgeltung des Volkskammergesetzes nach der Vereinigung gesammelt. Demonstrationen, Mahnwachen, Protestaktionen in Kommunen und Betrieben folgten. Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl, vier Parteivorsitzende und der Ost-Berliner Bürgermeister besuchten die Bürgerrechtler demonstrativ im ehemaligen Stasikomplex. Nicht so Joachim Gauck. »Es war nicht zu übersehen, dass ich ein distanziertes Verhältnis zu der Aktion hatte. Wieso bedurfte es einer Besetzung, fragte ich mich, wenn nahezu die gesamte Volkskammer erklärt 246 hatte, dass
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