Gauck: Eine Biographie (German Edition)
misstrauten, hatten wir die Namenslisten der OibE in den einzelnen Bezirksstädten Vertrauenspersonen aus den Bürgerkomitees übergeben. Sie besorgten die entsprechenden Akten, dann begaben sich unsere Ausschussmitglieder in die einzelnen Regionen, um diese Offiziere unverzüglich aus ihren Positionen zu entfernen. Ich fuhr nach Rostock, bestellte die Leiter der Bezirksbehörde der Volkspolizei ein und erklärte: ›Wir sind gekommen, um Sie zu informieren, dass jene und jene Offiziere der Stasi sind.‹ Sie seien unverzüglich zu entlassen beziehungsweise zum Rücktritt zu bewegen. Sollte das nicht geschehen, würden wir die Sache öffentlich machen.« Laut David Gill war dieser Einsatz der Mitglieder des Sonderausschusses ziemlich erfolgreich. »Vor allem in den Bezirken ist dieses Ziel weitgehend erreicht worden.«
Diese Aktion des Sonderausschusses war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Zerschlagung der Hinterlassenschaft des MfS . Formal gesehen war das Vorgehen allerdings ein evidenter Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung. Gauck und seine Mitstreiter maßen sich damit exekutive Befugnisse an, die ihnen nicht zustanden. Der Sonderausschuss der Volkskammer war ein Kontrollorgan des 239 Parlaments und weder befugt, Recht über die OibE zu sprechen, noch ihre Entlassung zu verlangen. Diese Kritik hat umso mehr ihre Berechtigung, als Joachim Gauck immer hohe moralische und rechtsstaatliche Ansprüche vertreten hatte. »Für mich waren und sind Normen und Formen sehr wichtig […] In der Beziehung bin ich durch und durch wertkonservativ.« Würde dasselbe heute geschehen, wäre ein öffentlicher Sturm der Entrüstung die Folge. Man kann diese Aktion nur unter den besonderen, postrevolutionären Umständen des Jahres 1990 erklären. Der Volkskammer und der Regierung war damals das Vorgehen des Sonderausschusses zumindest bekannt. Gauck hatte darüber vor dem Parlament berichtet, ohne dass es zu Einwänden gekommen war. Den meisten Beteiligten fehlte in dieser Frage schlicht das erforderliche rechtsstaatliche Wissen und damit Unrechtsbewusstsein.
Innenminister Diestel war schwer verärgert über diese Einmischung in seinen Geschäftsbereich. Als Retourkutsche auf Gaucks Affront sperrte er den Mitgliedern von Gaucks Sonderausschuss am 10. Juli den Zugang zu den Archiven. Schon am nächsten Tag musste er seine Weisung wieder zurücknehmen, nachdem Gauck beim Ministerpräsidenten und beim Präsidium der Volkskammer dagegen interveniert hatte. Diestel dachte gar nicht daran, sich vom Sonderausschuss in seiner Politik einschränken zu lassen. Er gestand später: »Ich habe mir von denen nichts sagen lassen. Gauck hatte doch nur ein kleines Amt. Unser Streit war eine Machtfrage.« Stattdessen bremste Diestel den Sonderausschuss aus, wo immer es ging. »Jeder unserer Schritte«, beschwerte sich Gauck, »musste erkämpft werden.« Diestels Haltung war ihm unbegreiflich. »Dass ein Innenminister der DSU […] die Politik des pfleglichen Umgangs mit MfS -Mitarbeitern […] nicht korrigierte, sondern unbeirrt die 240 zögerliche und lasche Auflösung weiterbetrieb, konnte niemand verstehen.«
Ein einziges Mal setzten sich Gauck und Diestel an einen Tisch. Am 12. Juli nahm der Ausschussvorsitzende an einer Sitzung beim Innenminister teil. Aus dem Protokoll springt einem die gegenseitige Abneigung der beiden Männer geradezu entgegen. Gauck pochte darauf, dass sein Ausschuss nicht nur eine kontrollierende Funktion, sondern vielmehr auch das Recht zu direktem Eingreifen habe. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Antipathie etwas naiv, trug Gauck außerdem den Wunsch vor, in seinem Sonderausschuss zusätzliche Bürgerrechtler einstellen zu können, die aber vom Innenministerium bezahlt werden sollten. Diestel erklärte sich dazu außerstande und verabschiedete sich an dieser Stelle. Wegen dringender Regierungsangelegenheiten könne er an der Beratung nicht länger teilnehmen. Der Affront gegenüber Gauck konnte nicht größer sein. Es blieb sein einziger Besuch im Innenministerium.
Nach vier Wochen Arbeit und zehn Sitzungen gab Gauck der Volkskammer am 20. Juli 1990 einen Zwischenbericht über die bisherige Arbeit des Sonderausschusses. Neben elf Parlamentariern arbeiteten zu diesem Zeitpunkt Sekretär David Gill und sechzehn Mitglieder aus Bürgerkomitees in dem Gremium mit. Gauck nahm vor allem zu den OibE Stellung und bat um Verständnis dafür, dass sein Ausschuss sich aufgrund der kurzen Zeit mit anderen
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