Gauck: Eine Biographie (German Edition)
sie die Einkassierung des Stasiunterlagengesetzes nicht hinnehmen werde? Ich komme nun mal aus dem Norden und nicht aus Berlin. Ich mag keine Besetzungen und Blockaden«.
Joachim Gauck hatte den Gallionsfiguren des Neuen Forums um Bärbel Bohley politisch noch nie nahegestanden. Jetzt war die Distanz schier unüberbrückbar geworden. Jahre später höhnte Gauck über sie, »dass der Wohlfahrtsauschuss der Erleuchteten die Ordnung jeweils festlegt – nach Normen, die nur den Erleuchteten zugänglich sind«. Schon rein äußerlich hob sich der Bündnis-90-Abgeordnete, immer akkurat, meist mit Anzug und Krawatte gekleidet, von den leger gekleideten Revolutionären ab. Hier ein pragmatischer Anhänger des demokratischen Rechtsstaates, dort Idealisten, die nicht willens waren, mit verschiedenen Interessenlagen realistisch umzugehen. Der damalige Geschäftsführer von Bündnis 90/Grüne beobachtete: »Gauck war bedacht, zuverlässig, ruhig und hob sich deutlich ab von dem bunt zusammengewürfelten Haufen seiner Fraktion.« Gauck selbst kommentierte den Unterschied in der Kleiderordnung später: »[…] als ich Abgeordneter wurde, wollte ich nicht mit grün-alternativen Abgeordneten verwechselt werden und habe mir deswegen eine Krawatte umgebunden. Als ich merkte, dass es davon unterschiedliche gibt, habe ich mich über diesen Unterschied auch gefreut. Das ist natürlich für einen bestimmten Kreis sehr verdächtig. Ich lasse mir aber nicht nachsagen, mein Anzug würde die ernsthafte Aufgabenerfüllung verhindern.«
Die nach wie vor revolutionär angehauchten Bürgerrechtler fragten sich: War Gauck wirklich der richtige Mann, um sich gegenüber Bonn durchzusetzen? »Die Mehrheit glaubte nicht so recht daran«, erinnerte sich Jens Reich, 247 der Gauck als einen Mann erlebte, der »durchaus zu polarisieren« verstand. Gauck selbst sah sich in eine Vermittlerrolle zwischen den anarchisch auftretenden Bürgerrechtlern und den nach Ordnung und Gesetzen verlangenden Westdeutschen gedrängt und beklagte später: »Im Osten dachten viele, ich wäre ein Verräter der eigenen Normen.«
David Gill rückblickend über die damalige Situation: »Im Nachhinein muss man sicher sagen, dass die Besetzungsaktion und der Hungerstreik der Sache genützt haben.« Beeindruckt von dem vehementen und medienwirksamen Widerstand, ruderte die Bundesregierung zurück. Der gesamte Einigungsvertrag schien in Gefahr. Am 12. September stimmte das Bundeskabinett einer Zusatzvereinbarung zum bereits paraphierten Einigungsvertrag zu, die die Bedenken der Volkskammer aufgreifen sollte. Schäubles Staatssekretär Hans Neusel und Joachim Gauck wurden gebeten, einen Kompromiss zu verhandeln, wie man mit dem leidigen Thema umgehen sollte. Also setzte der Vorsitzende des Sonderausschusses sich am 18. September in die Regierungsmaschine der DDR , um mit einer Verhandlungsdelegation nach Bonn zu fliegen.
Auch der von Gauck verhandelte Kompromiss sah nicht vor, das DDR -Gesetz als fortwirkendes Recht in den Einigungsvertrag aufzunehmen, wie die Volkskammer es gefordert hatte. Gauck gab diese wichtigste Forderung seines Parlaments preis. Lediglich im Hinblick auf die Verwahrung der Akten auf dem Gebiet der DDR und unter Verantwortung des von der DDR gewünschten Sonderbeauftragten setzte er sich durch.
Gauck bewertete sein Verhandlungsergebnis in seinen Erinnerungen: »Schöner wäre es gewesen, wir hätten uns ganz durchgesetzt, aber immerhin blieben die Kernpunkte des Gesetzes erhalten.« Das war eine jener Stellen in seiner 248 Autobiographie, in denen sein Bemühen, seine Leistungen in ein besseres Licht zu rücken, offensichtlich wurde.
Noch 1991, als er gerade Chef der Stasiunterlagenbehörde geworden war, hatte er das Resultat seiner Verhandlungen mit Neusel wesentlich kritischer gesehen. »Leider ist es nicht gelungen, dieses Gesetz als fortgeltendes Recht in den Einigungsvertrag mit aufzunehmen. […] das Resultat all dieser Bedenken waren äußerst restriktive Bestimmungen zur Nutzung der Stasi-Akten.« Diese Einschätzung kommt der Wahrheit wesentlich näher als die Darstellung in seinen Memoiren. Auch der nachträglich von ihm persönlich verhandelte Kompromiss war weit von dem entfernt, was Volkskammer und Bürgerrechtler so vehement gefordert hatten. Der Ausschussvorsitzende wäre in der damaligen Situation, unterstützt durch alle Fraktionen der Volkskammer und die Bürgerrechtler, in der Lage gewesen, die Fortgeltung des Volkskammergesetzes
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