Gauck: Eine Biographie (German Edition)
hinauslief, obwohl er keine große Ahnung von der Materie hatte und damals erst damit begann, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und warum wurde er Vorsitzender des Gremiums? David Gill gab die Erklärung, die immer wieder genannt wird, wenn es darum geht, Gaucks Erfolg zu erklären: »Im Ausschuss war er der Eloquenteste.« 236
Gill, ein dreiundzwanzigjähriger Theologiestudent und bis dahin Koordinator des Berliner Bürgerkomitees, wurde zum Sekretär des Sonderausschusses bestellt. Aus dieser Begegnung Gaucks mit dem jungen Mann im Alter seiner Söhne entwickelte sich eine intensive, mehrjährige Zusammenarbeit und eine Duzfreundschaft. Dem Ausschussvorsitzenden imponierte der junge Mann schon damals außerordentlich, weil dieser »wo immer er auftrat, Vertrauen erwarb – freundlich, engagiert, kompetent, verlässlich, für mich die Inkarnation aller Tugenden, die mir bei unseren jungen Mitstreitern während des revolutionären Umbruchs begegnet waren«. 2012, nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten, ernannte Gauck David Gill zum Staatssekretär im Bundespräsidialamt.
Gaucks Büro lag abgeschieden im obersten Stockwerk des Hauses der Parlamentarier im Herzen Berlins. Zwischen 1959 und 1990 hatte das Gebäude unter anderem das Zentralkomitee der SED beherbergt. Jetzt waren hier die Arbeitsräume der Volkskammerabgeordneten untergebracht. Um seiner Aufgabe nachkommen zu können, schien dem Ausschussvorsitzenden die Zuteilung eines Dienstfahrzeugs wichtig. Am 3. Juli beantragte Gauck, ihm und David Gill »einen Pkw zur ständigen Verfügbarkeit bereitzustellen«. Der zuständige Herr Niggemeier bedauerte, dem nicht stattgeben zu können, und verwies auf den Fuhrpark der Volkskammer. »Ich werde die Fahrbereitschaft anweisen, Ihre Fahrzeuganforderung mit Vorrang zu behandeln.« Damit gab sich Gauck nicht zufrieden und intervenierte beim Präsidenten der Volkskammer. Er bat darum, »für diesen Fall eine Sonderregelung zu treffen […] die umfangreichen Aufgaben des Sonderausschusses erfordern für den Vorsitzenden und den Sekretär eine große Flexibilität und Mobilität«. 237
Die erste Aktion des Sonderausschusses war, seine nichtparlamentarischen Mitglieder darauf zu überprüfen, ob sie »sauber«, also nicht für das MfS tätig gewesen waren. Im Sonderausschuss arbeiteten nicht nur Abgeordnete, sondern auch Mitglieder der Bürgerrechtskomitees mit, die über die Akten in den besetzten Stasizentralen wachten. Die Abgeordneten der Volkskammer wurden unabhängig davon bereits unter Federführung des Innenausschusses überprüft. Das Ergebnis war beruhigend. Sieben der fünfzehn nichtparlamentarischen Mitglieder des Ausschusses waren Opfer der Staatssicherheit gewesen, keiner von ihnen Täter.
Offiziere im besonderen Einsatz
Furore machte der Sonderausschuss bei der Enttarnung der Offiziere im besonderen Einsatz ( OibE ). Seit den sechziger Jahren waren mehrere tausend Stasioffiziere unter Verheimlichung ihrer MfS -Zugehörigkeit in Schlüsselstellen im In- und Ausland platziert worden. Offiziell hatten sie einen Arbeitsvertrag mit der entsprechenden Institution. Insgeheim blieben sie hauptamtliche Mitarbeiter des MfS und erhielten von dort Ausgleichszahlungen, wenn ihre zivile Tätigkeit schlechter bezahlt wurde als es ihrem Dienstgrad im MfS entsprach. Der berühmteste OibE war Alexander Schalck-Golodkowski, der im MfS den Rang eines Obersten bekleidete und das Gehalt eines Generalleutnants bezog. Nach außen fungierte Schalck-Golodkowski als Staatssekretär im Außenhandelsministerium. Tatsächlich leitete er den dort angesiedelten, geheimen Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, das wichtigste Instrument der DDR , sich dringend benötigte Devisen zu beschaffen.
Gaucks Sonderausschuss kamen schnell »erhebliche Zweifel«, dass der bei Innenminister Diestel angesiedelten Auf 238 gabe, die OibE zu enttarnen, ernsthaft nachgegangen wurde. Deshalb nahm der Ausschuss sich des Themas Ende Juni selbst an. Im Juli wurde ein Magnetband sichergestellt, auf dem die komplette Gehaltsabrechnung des MfS für das Jahr 1989 gespeichert war. Rund hunderttausend Datensätze mit den Namen, Geburtsdaten und Dienststellen aller hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS . Damit gelang es dem Sonderausschuss, eine OibE -Liste mit am Ende zweitausendvierhundertachtundvierzig Namen zusammenzustellen und herauszufinden, in welchen Stellungen sie tätig waren. Gauck über die Aktion OibE : »Weil wir dem Personal von Herrn Diestel
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