Gauck: Eine Biographie (German Edition)
durchzusetzen. Ob er darauf verzichtete, weil er seinem mit allen Wassern gewaschenen Verhandlungspartner Hans Neusel unterlegen war, ob sein grundsätzliches Harmoniebedürfnis ihn daran hinderte, härter aufzutreten, oder ob ein Schuss Opportunismus eine Rolle spielte, muss offenbleiben. Jedenfalls war das Verhandlungsergebnis für ihn maßgeschneidert. Die westdeutschen Politprofis fassten Vertrauen zu dem pragmatischen Bündnis-90-Abgeordneten, der sich durch Anzug und Krawatte von seinen Fraktionskollegen abhob und die Fähigkeit besaß, die Volkskammer auf sein Verhandlungsergebnis einzuschwören.
Gaucks Agieren als Sonderausschussvorsitzender zwischen Juni und September 1990 verschaffte ihm die Eintrittskarte in das neue gesamtdeutsche Establishment. Wer die künftige Stasiunterlagenbehörde leiten sollte, stand außer Frage. Dazu Wolfgang Schäuble lapidar: »In der Bonner 249 Koalition hatten wir uns bereits darauf verständigt, dass Gauck auch nach der Vereinigung Aktenbeauftragter bleiben solle.« Schäubles damalige Wahrnehmung von Gauck: »Ich kannte viele politische und gesellschaftliche Größen, aber im Gegensatz zu vielen von ihnen hatte ich Joachim Gauck gegenüber vom ersten Moment an ein Gefühl der Vertrautheit, der Zugehörigkeit.«
Nach dem Abschluss seiner Verhandlungen in Bonn fuhr Gauck am Abend zu den Besetzern der ehemaligen Stasizentrale, die nach wie vor im Hungerstreik waren. Nach der Einigung mit der Bundesregierung wollte er auch sie für den ausgehandelten Kompromiss gewinnen. Am nächsten Tag sollte der Einheitsvertrag von der Volkskammer verabschiedet werden, das sollte nicht durch missliebige Töne aus der Normannenstraße gestört werden. »Es war eine politische Notwendigkeit, dass jemand aus unseren Reihen mit den Besetzern der Stasi-Zentrale redete«, erinnerte sich der damalige Geschäftsführer von Bündnis 90/Grüne. Gauck ging nicht gern zu den Besetzern, aber er machte es. Sofort wurde die Unverbindlichkeit der von ihm erzielten Regelung erkannt und bemängelt. Bärbel Bohley zeigte sich enttäuscht über das Verhandlungsergebnis und erklärte: »Das ist insgesamt eine politische Niederlage.« Sie plädierte dafür, weiterhin Widerstand gegen die gerade getroffene Vereinbarung zu leisten. »Wir müssen unsere Radikalität beibehalten!«
Gauck fühlte sich in seiner Ehre gekränkt und drohte damit, das Amt des Sonderbeauftragten nicht anzunehmen. An dieser Stelle meldete sich Wolf Biermann in seiner ihm eigenen Weise zu Wort. »Ich habe den Eindruck, dass Gauck kein Schwein ist, dass er ehrlich ist und sich Mühe gibt.« Bohley blieb stur und meinte zu Biermann: »Geh du mit Gauck, ich nicht.« Jens Reich und Wolf Biermann 250 befürworteten, dass Gauck das Amt des Sonderbeauftragten übernehmen solle. »Nur Gauck hat eine Chance«, meinte Reich und Biermann lästerte: »Vielleicht treten die dich ja auch in den Arsch und jagen dich als Sonderbeauftragter davon.« Gauck entgegnete bissig: »Ich bin jederzeit bereit, für einen anderen qualifizierten Kandidaten meinen Platz zu räumen.« Die Bürgerrechtler setzten ihren Hungerstreik fort, trotz der Bemühungen Gaucks, sie von seinem Kompromiss zu überzeugen. Enttäuscht bezeichnete er die Besetzer zwei Tage später als »inzwischen isolierte Gruppe ohne Rückendeckung in der Bevölkerung«. Es gebe zurzeit keine Bürgerbewegung oder Partei, die die Forderung der Besetzer nach Herausgabe der Akten an Betroffene unterstütze. Speziell auf Bärbel Bohley gemünzt meinte er, sie »vertritt nun mal nicht die Bürgerbewegung schlechthin«.
Sonderbeauftragter der Bundesregierung
Am 20. September 1990 wurde der Einheitsvertrag mit einer großen Mehrheit von zweihundertneunundneunzig Abgeordneten von der Volkskammer verabschiedet. Achtzig Parlamentarier aus der PDS -Fraktion und vom Bündnis 90/Grüne verweigerten ihre Zustimmung. Joachim Gauck gehörte zu den ganz wenigen Abgeordneten seiner Fraktion, die sich zum Einheitsvertrag bekannten. Welchen Bedeutungszuwachs er in den vergangenen Monaten erfahren hatte, zeigte sich daran, dass er zu den insgesamt sieben Abgeordneten des Bündnis 90/Grüne zählte, die vom 3. Oktober an bis zur geplanten ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 in den deutschen Bundestag einziehen sollten.
Acht Tage später, am 28. September, wurde Gauck in der 251 letzten Arbeitssitzung der Volkskammer zum Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen
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