Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Themen noch nicht hatte befassen können. Ein Seitenhieb gegen Diestel war Gaucks Anspruch: »[…] dass das Parlament mit der Gründung dieses Ausschusses eine letzte Adresse in allen Staatssicherheitsfragen geschaffen hat. […] Wenn zum Beispiel das Innenministerium konkret versucht, Abgeordneten dieses hohen Hauses ihre Arbeitsaufgaben einzuschränken oder zu lenken, entstehen Probleme […] Unser 241 Sonderausschuss lehnt deshalb einstimmig jede ministerielle Einengung unserer Handlungen ab.« Das Protokoll vermeldete Beifall.
Als im September aufgrund der Rechercheergebnisse des Sonderausschusses das unfassbare Ausmaß bekannt wurde, in dem sich OibE auf wichtigen öffentlichen Positionen eingenistet hatten, war die Empörung grenzenlos. Allein in Diestels Innenministerium arbeiteten dreizehn OibE , weitere siebenundvierzig in nachgeordneten Dienststellen. Am 13. September beantragte daraufhin eine fraktionsübergreifende Gruppe von zwanzig Abgeordneten, Ministerpräsident de Maizière solle seinen Innenminister wegen erwiesener Unfähigkeit entlassen. Das Innenministerium sei der zentralen Aufgabe der Auflösung aller Stasistrukturen nicht annähernd gerecht geworden und habe die Sicherheit von Informationen und Daten nicht gewährleisten können. Die politische Verantwortung dafür trage Diestel. Erstaunlicherweise wurde der Antrag mit einer klaren Mehrheit von hundertvierundachtzig zu hundertsieben Stimmen abgeschmettert. Neben seiner CDU -Fraktion stimmten in der geheimen Abstimmung Dutzende von Abgeordneten anderer Parteien für den Innenminister. Es war die Stunde der ehemaligen Stasimitarbeiter in der Volkskammer, die Diestel mit ihrem Abstimmungsverhalten dafür dankten, dass er so schonend mit ihrer Zunft umgegangen war. Diestel blieb bis zum Ende der Regierung de Maizière im Amt und setzte seine politische Karriere im Landtag von Brandenburg fort. Die Demütigungen, die er durch das Agieren des Sonderausschusses erfahren hatte, vergaß er Gauck nie. 242
Das Volkskammergesetz für die Stasiakten
Neben der Problematik der OibE war das zweite große Thema des Sonderausschusses der Entwurf eines Gesetzes über den Umgang mit den Stasiakten. Die Eckdaten von Gaucks Regelungsvorschlag waren die Lagerung der Akten auf dem Gebiet der DDR sowie die Etablierung eines für alle Akten verantwortlichen »Sonderbeauftragten«, der mindestens fünfunddreißig Jahre alt und ehemaliger DDR -Bürger sein sollte. Grundsätzlich sollten die Akten gesperrt sein, ganz besonders für geheimdienstliche Zwecke. Forscher sollten nur einen sehr eingeschränkten Zugang haben, und auch einzelne Betroffene sollten nur dann Auskunft erhalten, wenn sie einen erlittenen oder drohenden Schaden glaubhaft machen konnten. Der Vorschlag des Sonderausschusses kam damit den datenschutzrechtlichen Bedenken der Bundesregierung weit entgegen und blieb deutlich hinter den Nutzungsmöglichkeiten der Akten für Forscher und Stasiopfer im späteren Stasiunterlagengesetz zurück.
Trotzdem stieß Gauck mit seiner Vorlage in Bonn auf entrüstete Ablehnung: »Dem von den Mitarbeitern des Ausschussvorsitzenden Gauck erarbeiteten Entwurf wird nachdrücklich widersprochen.« Innenminister Wolfgang Schäuble hatte auf Wunsch von Diestel schon Wochen zuvor Eckart Werthebach, einen langgedienten Beamten seines Ministeriums, als Berater für das DDR -Innenministerium abgestellt. Mehrfach hatte dieser in den letzten Wochen darauf gedrängt, die Stasiakten zu vernichten, soweit sie sich auf Bundesbürger bezogen. »Dieses Material ist rechtswidrig erarbeitet worden, ist also vom juristischen Standpunkt aus zu vernichten.« David Gill beobachtete: »Wie Werthebach reinregierte, fanden wir ziemlich absurd. Das 243 war für Diestel mehr von Bedeutung als die Vorgaben der DDR -Regierung.«
Schäubles Emissär empfahl jetzt erneut die zentrale Lagerung der Akten im Bundesarchiv und bestand auf einer »differenzierten Vernichtungsregelung«. Hätten DDR -Regierung und Volkskammer dem nachgegeben, wären die Akten, die Bundesbürger betrafen, vernichtet worden und der sonstige Aktennachlass des MfS an das Bundesarchiv gegangen. Mit der Folge, dass die von der Stasi über die DDR -Bürger gesammelten Informationen für Jahrzehnte gesperrt gewesen wären. Doch die Volkskammer verabschiedete am 24. August 1990 mit nur einer Gegenstimme den Entwurf ihres Sonderausschusses. Alle Fraktionen äußerten darüber hinaus die Erwartung: »Dieses Gesetz muss in der
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