Gauß: Eine Biographie (German Edition)
übertroffen hätten, was Präzision und Anschaulichkeit betrifft [GauXI,2: 104].
Nach langem Geduldsspiel ist Anfang Juni die Leitung zwischen Webers Physikinstitut und der Sternwarte endlich stabil. Inzwischen sind die Strippenzieher auf stärkeren, gefirnissten Eisendraht umgestiegen, der sich da draußen, über den Dächern Göttingens, besser zu bewähren scheint. Als erster Stabilisierungspunkt für den Draht dient das Dach des Accouchierhauses. Es ist die Entbindungsklinik des mittlerweile verstorbenen Professors Friedrich Benjamin Osiander, dessen Konservierungsverfahren für menschliche Organe sich auch beim Präparieren des Gauß’schen Gehirns bewähren wird. Die Universitätsapotheke in der Nähe des Rathauses ist die nächste Station, und wer hoch oben, im Nordturm der St. Johanniskirche steht, ist im Stadtkern Göttingens dem Himmel am nächsten. Dort befindet sich auch die Wohnung des städtischen Turmwächters, durch die Weber zu den Dachluken des Kirchturms gelangt.
Im Briefwechsel mit dem Stadtmagistrat bittet er um eine nachträgliche Genehmigung für die Verdrahtung des Kirchendachs und bemüht sich, die in der Stadt kursierenden Gerüchte über die Gefährlichkeit des heißen Drahtes zu entkräften. Die Drähte führten viel zu schwachen Strom, schreibt Weber, um Bedenken hegen zu müssen: «Der Zweck der Sache ist darauf gerichtet, die Kräfte des Galvanismus und Magnetismus, so weit sie zu praktischen Zwecken irgend einmal dienen könnten, im großen näher zu untersuchen» [Fey: 161]. Selbstbewusst bittet er den Magistratsdirektor Ebell, der Drahtverbindung «tunlich Schutz angedeihen zu lassen» [Fey: 163]. Polizisten und Nachtwächter mögen doch bitte im Dienst der Wissenschaft ein Auge darauf haben. Webers Antrag beim Universitätskuratorium auf einen zusätzlichen Raum in seinem Institut für Experimente zur Überprüfung des Ohm’schen Gesetzes wird nicht genehmigt. Stattdessen muss er mit dem Flur des mittleren Stockwerkes vorliebnehmen, der aber «ziemlich geräumig, sehr hell und bedielt» sein soll.
Es ist erst sechs Jahre her, seit Georg Simon Ohm mit seinem mathematischen Scharfsinn Ordnung ins Chaos der falschen Vorstellungen über die elektrische Kraft gebracht hat. Und längst nicht alle deutschen Physiker haben von seinen Erkenntnissen Notiz genommen, zumal er kein ordentlicher Universitätsprofessor ist, sondern ein Eigenbrötler, wie manche Akademiker finden, der der Elektrizität sein sinnloses Spiel mit mathematischen Symbolen aufzwinge. Er hat den Prozessen in der «galvanischen Kette» – im geschlossenen Stromkreis – die nackten Zahlen aus seinen weitreichenden Experimenten zugeordnet, hat also etwas getan, das Gauß unbedingt gefallen müsste. Ohm hat die drei dabei in Wechselwirkung tretenden physikalischen Größen elektrische Spannung, Stromstärke und Widerstand in die richtigen Verhältnisse zueinander gesetzt. Als elektrische Spannung wird das Potenzial ausgedrückt, einen elektrischen Ladungsträger in Bewegung zu bringen. Und diese bewegte Ladung ist der elektrische Strom. Er fließt, um die Spannungsdifferenz an den Polen auszugleichen. Erhöht man nun die Spannung, nimmt auch die Stromstärke zu. Das ist die erste eindeutige Beziehung: Die Stromstärke ist proportional zur angelegten Spannung. Fließt ein solcher Strom von Webers Physikalischem Kabinett zur Sternwarte, setzt ihm die spezifische Beschaffenheit des gut tausend Meter langen Drahtes einen Widerstand entgegen, der überwunden werden muss. Erhöht man nun diesen Widerstand, so fand Ohm heraus, verringert sich auch die Stromstärke. Diese einfachen Gesetzmäßigkeiten wollen Gauß und Weber jetzt mit ihrer langen Leitung überprüfen. Fast hat es den Anschein, als trauten auch sie dem Außenseiter nicht recht und müssten sich erst selbst im eigenen Experiment von der Gültigkeit des Ohm’schen Gesetzes überzeugen.
Aber der bedeutendste lebende Mathematiker weiß längst intuitiv, dass solche eindeutigen Beziehungen einfach viel zu schön sind, um nicht wahr zu sein. Er muss sich von diesen klassischen Proportionen geradezu elektromagnetisch angezogen fühlen. Mehrfach kommt er in seinen Abhandlungen auf «das schöne von Ohm aufgestellte Gesetz» [GauV: 533] zu sprechen, das natürlich auch der strengen Prüfung der Göttinger standhält. Die sind allerdings erst einmal verblüfft über die äußerst geringe Spannung, die sie an ihren Draht anlegen müssen. Immerhin summiert sich die
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