Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Bewegungen des Magnetstabs in Webers Physikinstitut nach links oder rechts abzulenken – je nach der Richtung, in der der Strom durch den Multiplikator fließt. Und diese entscheidende Umkehrung der Stromrichtung hat Gauß mit seinem Kommutator vollkommen beherrschbar gemacht.
Zur verabredeten Stunde sitzt Wilhelm Weber erwartungsfroh in seinem improvisierten Flurlabor vor dem waagrecht aufgehängten Magnetstab. Plötzlich gerät er durch die von Gauß gesandten elektromagnetischen Schwingungen in heftige Zuckungen und stößt ein paar Augenblicke später mit einem Ende an eine kleine Glasglocke. In fünf Minuten wird Gauß mit der eigentlichen Übertragung beginnen. Weber registriert vier Ausschläge für das erste Zeichen: einmal nach links, dreimal nach rechts. Nach der vereinbarten Lesart notiert er ein Pluszeichen für die Ablenkung nach links und drei Minuszeichen für die drei Ausschläge nach rechts. Fünf Sekunden lang beobachtet Weber nichts weiter als die träge Reaktion des Stahlmagneten auf das Erdmagnetfeld. Doch sobald Gauß in der Sternwarte wieder den Kommutator bedient, durchzuckt es den Stab im Physikinstitut – ein unübersehbarer Unterschied zum Normalzustand des Magneten. Weber notiert eine Auslenkung nach links, eine nach rechts und wieder eine nach links: + – +. Das dritte Zeichen lautet + + – –. Knapp fünf Minuten später ist die Übertragung beendet, und auf Webers Notizblock steht:
Jedes der zwei-, drei- oder vierwertigen Zeichen entspricht einem Buchstaben des Alphabets. Jetzt muss er seine Aufzeichnungen nur noch in der Tabelle nachschauen und die gefundenen Buchstaben zu Worten aneinanderreihen. Die Botschaft aus der Sternwarte Göttingen in dieser Geburtsstunde der elektromagnetischen Telegraphie lautet: «Wissen vor Meinen, Sein vor Scheinen». Den beiden Kommunikationspionieren ist sehr wohl bewusst, dass dies der historische Durchbruch gewesen ist. Sie haben die mathematisch-physikalische Grundlage für eine Telegraphie geschaffen, die von Witterungsbedingungen unabhängig ist. Alles Weitere ist eigentlich nur noch eine Frage der technischen Verfeinerung. Wer jetzt die richtigen unternehmerischen Entscheidungen trifft, kann steinreich werden. Und nun?
Es dauert ein halbes Jahr, bis Gauß sich überhaupt aufrafft, den epochalen Erfolg seinem alten Freund Olbers mitzuteilen. Er erklärt ihm die Drahtleitung über den Dächern Göttingens und schreibt dann: «Wir haben diese Vorrichtung bereits zu telegraphischen Versuchen gebraucht, die sehr gut mit ganzen Wörtern oder kleinen Phrasen gelungen sind. Diese Art zu telegraphieren hat das Angenehme, dass sie von Wetter und Tageszeit ganz unabhängig ist, jeder, der das Zeichen giebt und der dasselbe empfängt, bleibt in seinem Zimmer, wenn er will, bei verschlossenen Fensterläden. Ich bin überzeugt, dass unter Anwendung von hinlänglich starken Drähten auf diese Weise auf einen Schlag von Göttingen nach Hannover oder von Hannover nach Bremen telegraphiert werden könnte» [Olb2: 603]. Das klingt trotz der sensationell anmutenden Aussichten auffallend kühl und nüchtern im Vergleich zu der Begeisterung, mit der er dreizehn Jahre zuvor jedes neue Detail seiner Heliotrop-Erfindung gemeinsam mit Olbers geradezu zelebrierte. Der Heliotrop hat als überlegenes Triangulationsinstrument zweifellos Maßstäbe in der Höheren Geodäsie gesetzt. Aber es wird auf die Geodätengemeinde beschränkt bleiben. Und zum Telegraphieren taugt diese Erfindung auch nur bei Sonnenschein.
Gauß ist sich über die Bedeutung der Versuche zwar durchaus im Klaren, aber sein weiterer Umgang damit zeige eindeutig, «dass diese Anwendung seiner wissenschaftlichen Versuche für ihn lediglich etwas Akzidentelles war» [GauXI,2: 120], kommentiert Clemens Schaefer, der in den Gesammelten Werken von Carl Friedrich Gauß die elektromagnetischen Arbeiten referiert. Ein Zufallsprodukt also und längst nicht so wichtig wie die Suche nach der großen elektromagnetischen Theorie. Wilhelm Weber hat die Strippen nicht durch die Göttinger Luft gezogen, um vorrangig telegraphische Versuche anzustellen. Die haben sich ganz spielerisch einfach von selbst ergeben. Die steuerbare Auslenkung der Magnetnadel und die Kenntnis der Eigenschaften des elektrischen Stroms führten in wenigen Gedankengängen zwangsläufig zu der entscheidenden Idee. Die beiden Erfinder wider Willen nehmen ihren nicht systematisch geplanten Erfolg erstaunt zur Kenntnis und … widmen sich wieder
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