Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Länge des Drahtes auf gut drei Kilometer. Denn das eine Drahtende wird ja zunächst hundertsiebzigmal um den Rahmen des einpfündigen Magnetstabs in der Sternwarte gewickelt, bevor er hinaus und über die Dächer geht. Und er endet erst mit der letzten von fünfzig Windungen um den ebenso schweren Magneten in Webers Physikalischem Kabinett. Erstaunlicherweise aber reicht ein einziges Kupfer-Zink-Plattenpaar von der Größe zweier preußischer Taler als Energiespender völlig aus. Und statt die zwischen den beiden Elementen liegende Papierscheibe mit Säure zu tränken, wie es die Lehrbücher vorschreiben, versucht Gauß es erfolgreich mit «frischem Brunnenwasser». Das sind Feiertage für den leidenschaftlichen Forscher, dem die Minimierung aller denkbaren Faktoren auf das kleinstmögliche Maß eine Herzensangelegenheit ist.
Und als er die Spannung erhöht, indem er mehrere Plattenpaare hintereinanderschaltet, wie es sich eigentlich für eine ordentliche Volta-Batterie gehört, da registriert er eine proportional anwachsende Stromstärke, sodass die Magnetnadel seines zum Elektrizitätsmessgerät umgebauten Magnetometers weit über die Skala hinausschießt, genau so, wie es das Ohm’sche Gesetz verlangt. Der Strom hat zwar auf ganzer Länge dieselbe Intensität, dennoch fällt dem Skeptiker eine mögliche Fehlerquelle ein. Diese Tatsache müsse unbedingt «auch unter eigenthümlichen Umständen, namentlich während starken Regens» [GauV: 532] noch einmal überprüft werden. Die augenblickliche Wirkung des Stroms fasziniert ihn aber noch aus einem anderen Grund. Der elektrische Strom durchläuft die gesamte Strecke so unmessbar schnell, «dass durch Beobachtung des Anfangs der Bewegung der Magnetnadeln die Uhren … schärfer als durch irgendein anderes Mittel miteinander verglichen werden können» [GauV: 338].
Wenn kreative und erfindungsfreudige Wissenschaftler wie Gauß und Weber zusammenarbeiten und mit dem mathematischen Wissen um die Vorgänge im Stromkreis vertraut sind, sie also beliebig lenken können, lassen sich weitere Neuentdeckungen nicht mehr ausschließen.
Die nächste technische Anwendung des elektrischen Stroms betrachtet Gauß selbst nur als eine unbedeutende Spielerei und kaum der Rede wert, doch man kann sich vorstellen, mit welcher Begeisterung er und Weber an den Details arbeiten, da sie, auf Ohms und Faradays Schultern stehend, theoretisch längst wissen, dass ihre Idee funktionieren muss: Also gönnen sie sich den Spaß und konstruieren die erste elektromagnetische Fernklingel der Welt. In die galvanische Kette, also in den geschlossenen Stromkreis zwischen Sternwarte und Physikinstitut, baut Gauß auf der Sternwarte einen «Kommutator» ein. Das ist ein Schalthebel, mit dem er die Stromrichtung beliebig umschalten kann. Er synchronisiert diese Umschaltungen mit der Schwingungsdauer des einpfündigen Magnetstabes. Dadurch werden dessen Schwingungen verstärkt. Nach einigen Wiederholungen dieser Stromumkehrungen schlägt der Magnetstab in Webers Institut aus und stößt an eine «leichte Auslösung für einen Wecker oder eine Pendeluhr» [GauV: 532]. Angespornt vom Erfolg, bringen sie eine daneben gehängte Glasglocke zum Tönen und werden zu eifrigen Poltergeistern, als sie herausfinden, dass sie mit ihren elektromagnetischen Schwingern auch Gegenstände von einem schmalen Regalbrett fegen können. Diese gelungene Experimentreihe hat allerdings auf abstrahierter Ebene eine viel tiefgreifendere Bedeutung: Mit beherrschbaren Stromstößen lassen sich Signale in die Ferne schicken. Vereinbaren Sender und Empfänger nun einen Code, können diese Zeichen in Nachrichten umgewandelt werden.
Wer von beiden zuerst diesen Gedanken äußert, ist nicht mehr nachzuvollziehen, zumal Gauß und Weber stets betont haben, dass sie gleichberechtigt zusammengearbeitet haben. Wie bei der Fernklingel wissen die Partner auch bei ihrem nächsten Experiment im Voraus, dass es funktionieren wird. Entsprechend beflügelt nehmen sie ein paar kleine Veränderungen an ihren Magneten vor und einigen sich auf einen simplen Code. Und so steht, vermutlich an einem der ersten Junitage des Jahres 1833, Carl Friedrich Gauß wieder einmal vor den beiden talergroßen Zink- und Kupferplatten, zwischen denen eine mit reinem Wasser getränkte Papierscheibe steckt. Bei diesem Experiment von historischen Dimensionen geht es darum, mit möglichst kurzen Stromstößen aus dieser winzigen Energiequelle von der Sternwarte aus die
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