Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Geburtstag gefeiert. Inzwischen lebt er mit der jüngsten Tochter Therese und der greisen, erblindeten Mutter allein in der Sternwarte. Sohn Joseph ist ein Jahr lang durch die nordamerikanischen Staaten gestreift, um den Bau der Eisenbahn zu studieren – das neue technische Wunderwerk. Er hofft, mit seinem Kenntnisvorsprung ins deutsche Eisenbahngeschäft einsteigen zu können. Noch ist er Adjutant bei einem Artillerie-Bataillon in Stade und hat sich gerade mit der Tochter eines Medizinalrats verlobt. Schwarzes Schaf Eugen ist mittlerweile ehrenhaft aus der Armee entlassen worden und hat seinen Glauben an Gott entdeckt. Jetzt will er Missionar werden. Dem Vater gefällt die «pietistische» Sprache Eugens ganz und gar nicht. Er wittert Heuchelei und Falschheit in den bombastischen Heilsformeln der amerikanischen Spielart religiöser Begeisterung. Dennoch erkennt er «von ganzem Herzen das Geschäft eines Missionars [an], soweit es darauf geht, den noch halbwilden Theil der Erdbewohner der Humanität zuzuführen» [Olb2: 628].
Seine älteste Tochter Minna bereitet ihm Sorgen ganz anderer Art. Sie ist seit sieben Jahren mit dem Theologen und Orientalisten Georg Heinrich August Ewald verheiratet, der an der Göttinger Universität lehrt. Schon als Mädchen hat sie eine schwache Lunge gehabt, so dass sie weder tanzen noch anhaltend singen konnte. Der Vater befürchtet, sie könne sich bei der jahrelangen Pflege seiner zweiten Frau angesteckt haben, denn Minna zeigt dieselben Krankheitssymptome. Anfangs schwächelt sie, «ohne wirklich krank zu sein». Im Herbst 1831, unmittelbar nach dem Tod der Stiefmutter, hat sie die ersten Bluthustenanfälle gehabt. Auch sie schwindet nun – ein Bild des Jammers – ohne Hoffnung auf Heilung langsam dahin. Der jüngste Sohn Wilhelm hat nach seiner Internatszeit in Celle eine landwirtschaftliche Lehre absolviert. Er wird als umgänglich und mitteilsam geschildert, aber er ist wohl nicht weltklug genug, um, wie es ihm eigentlich vorschwebt, als Gutsverwalter hoch zu Ross Karriere zu machen. Während seiner letzten Anstellung bei einer Gräfin Itzenplitz in der Uckermark leidet er unter der öden Büroarbeit und unter der «superciliösen [hochmütigen] Behandlung». Er ist unglücklich, schmiedet Auswanderungspläne. Erst will er mit einem Freund in Griechenland sein Glück versuchen, dann aber entschließt er sich, dem Bruder nachzueifern und nach Amerika zu segeln. Der weltberühmte Gauß sieht sich nicht in der Lage, sein Renommee einzusetzen, um für seinen Jüngsten eine befriedigende Anstellung zu finden. Aber wozu hat er Freunde? Wieder einmal spannt er Gerling, Schumacher und Olbers ein. Wie nachdrücklich die sich bemühen, muss offenbleiben. Erfolglos sind sie allemal. Gauß selbst hasst das «Sollizitieren», das Katzbuckeln, will nicht als Bittsteller auftreten. Für diese Schwäche nimmt er sogar Wilhelms Auswanderung in Kauf. Im Juni schifft sich Wilhelm mit seiner jungen Verlobten Luise Fallenstein, einer Nichte Bessels, und dem mütterlichen Erbteil in der Tasche auf dem Segelschiff Alexander in Bremen ein. Olbers gegenüber schildert Gauß die Schwiegertochter als «ein zwar ganz mittelloses, aber sehr wackeres Mädchen» [Olb2: 644].
Trotz des Entsetzens über die napoleonische Herrschaft zwischen 1806 und 1813 hat sich mit dem französischen Zivilrecht doch ein Hauch von Revolution in deutschen Landen verbreitet und ein allmählicher Wandel zu mehr bürgerlichen Rechten und politischem Einfluss vollzogen. Und diese willkommene gesellschaftliche Entwicklung haben die Bürger in der Landschaft zwischen friesischem Watt und Harzer Klippen, Schumachers Sternwarte im Norden und Gaußens eisenfreiem Häuschen im Süden nicht ohne weiteres aufgeben wollen. Friedrich Christoph Dahlmann, Staatsrechtler, Historiker und Kollege von Gauß an der Universität Göttingen, hat am Entwurf eines liberalen Staatsgrundgesetzes mitgearbeitet, das 1833 endlich in Kraft getreten ist. In der konstitutionellen Monarchie hat der König jetzt nur noch begrenzte Macht. Im Juni 1837 stirbt Wilhelm IV. von Großbritannien und Hannover. Wilhelms Bruder Ernst August steigt auf den Thron in Hannover und erklärt am 1. November das liberale Staatsgrundgesetz für «erloschen». Verfassungsvater Dahlmann schreibt eine «Protestation» und versucht, seine 41 Professorenkollegen der Georg-August-Universität geschlossen zur Unterschrift zu bewegen. Außer ihm selbst sind es dann allerdings nur
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