Gauß: Eine Biographie (German Edition)
dünnen Luft der Kordilleren aufs christlich-europäische Festland zurück, wo doch «Glockentürme … den Beobachtern unendlich viele Punkte [bieten], die sie für ihre Meßdreiecke wählen können» [Grk: 82].
Mitte Juni beginnt die eigentliche Vermessungskampagne. Auch in diesem Sommer sind Sohn Joseph, Leutnant Hartmann und Hauptmann Müller wieder mit von der Partie. Hinzu kommen zwei Unteroffiziere, ein Bombardier und zwei Kanoniere. Auf einem Pferdefuhrwerk geht die Reise von einem Dreieckspunkt zum nächsten. Die gemeinen Soldaten schlafen in Zelten und müssen die Ausrüstung bewachen, während Gauß und die Offiziere auf Kosten des Königs von England in Gasthöfen übernachten. Als sich der Tross aus sieben Soldaten und drei Zivilisten der ersten Station Salzgitter nähert, nehmen die Ankömmlinge schon von weitem den penetranten Geruch der Moorbrände in der offenen Heide wahr. Die Bauern verbrennen die Heidekrautdecke des Moorbodens, um ihn in Wiesen- oder Ackerland zu verwandeln. Und der Nordwestwind treibt den Qualm genau in ihre Richtung. Eine Woche lang sind die Vermesser dem beißenden Brandgeruch ausgesetzt, der sich in Kleidern, Haut und Haaren festsetzt. Anfangs befürchtet Gauß massive Behinderungen der Winkelmessung. Doch das Licht des mit einem größeren Spiegel bestückten Heliotrops durchdringt auch die anhaltend dunstige Atmosphäre und legt die 88 Kilometer vom Lichten- zum Falkenberg problemlos zurück.
Bäume versperren die Sicht vom Falkenberg zum Wilseder Berg. Für einen Durchhau, wie Gauß den Waldschlag nennt, ist Hauptmann Müller zuständig. Er verhandelt mit Förstern, Behörden und Privatleuten über die Entschädigung und fällt dann mit seinen Gehilfen die Bäume in einer Linie, die Gauß bei den Erkundungen im Frühjahr vorausberechnet hat. Es wird nicht die letzte Durchhauaktion in dieser Gegend gewesen sein, aber eine, «deren herrliches Gelingen … zu meiner Satisfaktion gereichte …» [Ger: 227]. Es ist kein Baum zu viel oder zu wenig gefallen, denn als er zum ersten Mal vom Falkenberg aus sein Fernrohr auf den Wilseder Berg richtet, hat er den dort aufgestellten Signalbaum tatsächlich mitten im Fadenkreuz – «ein Triumph der Messkunst», schwärmt er seinem Freund Olbers vor.
Während dieser manchmal schon verzweifelten Suche nach einem geeigneten Anschlussort wechselt Müller nach Berechnungen von Gauß einige Male geringfügig seinen Standpunkt auf dem Hausselberg, bis er dann doch noch das winzige Stück eines Kirchturmdachs im gottesfürchtigen Winsen an der Aller durch das Geäst schimmern sieht. Immerhin dient ihm jetzt diese Kirchturmspitze als Orientierungspunkt zur Berechnung einer neuen Schneise durch den Hasselwald. Allmählich dringt Gauß Schritt für Schritt nach Norden vor und findet in der Nähe des Dorfes Wulfsode einen Punkt, der es ihm erlaubt, zwei prachtvolle Hauptdreiecke mitten ins Herz der Heide zu zaubern.
Die Unterkünfte sind in dieser abgeschiedenen Gegend von unterschiedlichster Qualität. Gauß erwartet keinen Luxus, nicht einmal Komfort, aber wenn er die Wahl hat, in einem ordentlichen Gasthof zu übernachten, dafür aber jeden Morgen eine Stunde zum Dreieckspunkt unterwegs zu sein, oder ein dürftiges Lager in bequemer Nähe des Beobachtungspostens zu beziehen, dann entscheidet er sich auf jeden Fall für das bessere Logis. In Bergen scheint er gut untergekommen zu sein. Während seiner Arbeit auf dem Hauptpunkt Falkenberg wohnt er den ganzen August über in dem Ort. Bergen liegt rund zehn Kilometer vom Dreieckspunkt entfernt, Becklingen jedoch nur drei Kilometer. Er wird seine Gründe gehabt haben, sein Quartier nicht in Becklingen zu nehmen. Anschließend zieht er weiter zum 20 Kilometer nordöstlich von Bergen gelegenen Hausselberg, dem nächsten Dreieckspunkt. Außerhalb des Dorfes Faßberg stehen drei stattliche Bauernhöfe am Rand der Heidelandschaft. Zusammen bilden sie ein eigenes «winziges Staatswesen von einem Quadratkilometer Größe» [Ohe: 31]. Die Besitzer heißen Peter Hinrich von der Ohe zur Ober-Ohe und Peter Hinrich von der Ohe zur Neddern-Ohe. Der Ober-Ohe ist, so die Schwiegermutter, «öögt an de Mütz röögt», das heißt starrsinnig, unbelehrbar, misanthropisch – ein alter Heidjer, der einem Fremden, der ungebeten seinen Hof betritt, grundsätzlich mit Misstrauen begegnet. Und erweist sich so ein Eindringling dann auch noch als mindestens so dickschädelig und schwierig im Umgang wie der Ober-Oher
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