Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Standardverfahren in der Höheren Geodäsie durchsetzen.
10. Die Vermessung des Königreichs Hannover
Ende April 1822 bricht Gauß zu neuen Erkundungen auf und nimmt seinen Assistenten, Hauptmann Georg Wilhelm Müller, mit. In der Lüneburger Heide sucht er nach brauchbaren Dreieckspunkten, die er miteinander verbinden kann. Nordöstlich von Celle wird er fündig. Es ist ein etwas höher gelegenes Ackerfeld bei Garßen. Dieser Punkt lässt sich leicht an den südwestlich gelegenen Deister-Höhenzug und an den Lichtenberg im Südosten anschließen. Gauß dringt weiter nach Norden vor und macht den 150 Meter hohen Falkenberg zwischen den Orten Bergen und Fallingbostel zu einem Dreh- und Angelpunkt der ganzen Messung. Selbst von hier aus erkennt er noch den Lichtenberg bei Salzgitter als schmalen dunklen Saum am Horizont und lässt eine zwölf Meter hohe Signalstange errichten. Von nun an machen ihm allerdings allzu flaches Gelände und kurze Sichtweiten «unsägliche Schwierigkeiten» [Ger: 227]. Das Land ist platt, dem Lichtdreieckskünstler will kein dominierender Punkt ins Auge fallen, von dem aus er auf das Land herabschauen könnte. Überall nur offene Heide, eingehegte Wiesen und Pferdekoppeln, Schweinesuhlen und Felder, die sich zu einem schachbrettartigen Muster zusammenschieben. Und so viel Holz. Die dichten Wälder wirken wie undurchdringliche Mauern, die dem Beobachter die Sicht nach Hamburg versperren.
Kurz entschlossen fährt er nach Lüneburg, steigt noch einmal auf den Turm der St. Michaeliskirche und sucht den südwestlichen Horizont nach markanten Punkten ab. Gauß beneidet seinen Kollegen Gerling, der im wunderbar hügeligen Hessen auf Triangulationstour ist und seinen nördlichen Endpunkt mit dem Gauß’schen Netz verbinden will. «In dieser flachen Gegend», schreibt Gauß aus der Heide, «ist die Krümmung der Erde schon ein Hindernis der Verbindung» [GauXI,2: 78]. Und die sollte ja nach einer früheren Gauß’schen Erkenntnis das einzige Hindernis für die Dreieckserrichtung mit Heliotroplicht sein. Vor allem aber kommen die Heidebewohner offenbar glänzend ohne Kirchen zurecht. Denn die sind rar in den kleineren Orten dieser gottverlassenen Landschaft. Kein Wunder, dass in dieser «verwünschten Gegend» vor rund fünfzehn Jahren auch der französische Vermessungstrupp unter der Leitung von Oberst Anatol François Epailly bei dem Versuch gescheitert ist, Jérôme Bonapartes Königreich Westphalen zu kartographieren. Zuweilen finden Gauß und seine Helfer noch verkohlte Pfähle abgefackelter Signaltürme.
Offenbar gefällt es ortsansässigen Stammesangehörigen nirgendwo auf der Welt, wenn Eindringlinge mit fremdem Zungenschlag ganz selbstverständlich lange Holzstangen in ihr Territorium rammen. Das sieht verdächtig nach Inbesitznahme aus. In anderen Weltgegenden gehen die Einheimischen allerdings dankbarer mit unverlangt errichteten Signalgerüsten um, weil sie sie vermutlich als Geschenke der Götter betrachten. Als Epaillys berühmter Vorgänger Charles Marie de La Condamine in den 1730er Jahren einen Breitengrad am Äquator misst, muss er die Erfahrung machen, dass die Triangulation im Hochgebirge mit freier Gipfelauswahl nicht unbedingt das Paradies für Vermesser sein muss. 3000 Meter über dem Meeresspiegel schnüren La Condamine und seine Gefährten im peruanischen Hochland von Quito – heute Ecuadors Hauptstadt – Holzpfähle und Stangen mit Stricken pyramidenförmig zusammen, verkleiden sie mit Baumwollstoff, lassen sie als «Standzeichen» an ihren ausgewählten Dreieckspunkten zurück und ziehen mit ihrer Maultierkarawane weiter zum nächsten Punkt. Wenn sie sie schließlich nach tage- oder gar wochenlangem schlechten Wetter ins Visier nehmen wollen, sind sie nicht selten unter Schnee begraben, vom Sturm zerfetzt oder anscheinend gar in den Himmel aufgefahren und hinter Wolken versteckt. Den häufigsten Grund zur Klage bieten allerdings die indianischen Hirten, die die Standzeichen offenbar als freundlich zurückgelassene Einmannzelte betrachten und nicht aus Wut über die Territorialverletzung beschädigen, sondern durchaus dankbar komplett demontieren. Oberhalb der Baumgrenze sind Holzpfähle eine Kostbarkeit, Baumwolltuch kann man immer gebrauchen, und mit den Stricken lässt sich das liebe Vieh festbinden. La Condamine klagt, er habe das Standzeichen am Berg Pambamarca siebenmal neu errichten müssen. Und er sehnt sich in Augenblicken völliger Erschöpfung in der
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