Gauß: Eine Biographie (German Edition)
gnädigst zum Regieren zurückgekehrt, schieben notorischer Geldmangel, Hofintrigen und Privatrücksichten so mancher Akademiemitglieder, «die das Alter schwach und blind gegen das wahre Interesse der Wissenschaft gemacht hat» [BGB: 425], die Berufung von Gauß nach Berlin immer wieder auf. Einmal stirbt ein Professor, und man überlegt, die Stelle zu streichen, um mit dem frei werdenden Gehalt und undurchsichtigen Mietzinsverbuchungen die Differenz zwischen dem ursprünglichen Angebot und den – selbstverständlich von Olbers vorformulierten – Gauß’schen Forderungen auszugleichen. Nach zwei Jahren Entschlusslosigkeit lässt die Indiskretion eines durchreisenden Gelehrten aus Berlin Gaußens Wechselwunsch kurzzeitig zum Stadtgespräch in Göttingen werden, sodass sich der Prorektor der Universität bemüßigt fühlt, ihm zu versichern, er werde «alles Mögliche» tun, um ihn in Göttingen zu halten. Was den Pedanten Gauß wiederum zu dem pikierten Kommentar anstachelt, er erkenne keinen Maßstab für den Umfang dessen, was man in Hannover unter «alles Mögliche» verstehe.
Schließlich sind es dann doch noch recht «ansehnliche Anerbietungen», die aus Hannover kommen, falls er die Berliner Angelegenheit ruhenlassen wolle. Gauß lehnt ab. Daraufhin folgt eine vom englischen König persönlich abgesegnete «wahrhaft liberale Verbesserung meiner Lage» [BGB: 443], die Gauß nun meint, nicht mehr ablehnen zu können, ohne illoyal zu handeln. Die Entscheidung ist gefallen: Gauß bleibt in Göttingen. Nach vier Jahren Gezerre um ein paar hundert Taler höheres Jahresgehalt scheitert auch der zweite Versuch, Gauß nach Berlin zu holen. Bessel in Königsberg schäumt. Als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften ist er der Strippenzieher in dieser schwerfälligen Farce gewesen. Aber er ist auch von Gauß enttäuscht, der den Köder erhöhter Bezüge schnappt, statt sich endlich von der Vorlesungsverpflichtung als Hauptursache seines Unglücks zu befreien. In Berlin hätte er in der Nähe großer Geister diese Freiheit gehabt, die so ersehnte Muße für seine theoretischen Arbeiten, ruft ihm Bessel hinterher.
Als Gauß um Michaelis 1821 an die allmähliche Beendigung der Sommergeschäfte denkt, steht er bereits seit vier Wochen auf dem Brocken. Er hält sich nicht das erste Mal an diesem 1141 Meter hohen Ort mit seinem herben Klima auf. Vor achtzehn Jahren hat er hier den Baron Zach kennengelernt und anschließend unter seiner Anleitung in Gotha die ersten praktischen Triangulationserfahrungen gesammelt. Beim Aufstieg weiß Gauß, dass der höchste Gipfel im Harz oberhalb der Baumgrenze rund 300 Tage im Jahr in Nebel gehüllt ist, dass er mit Dauerregen, schweren Stürmen und schlechter Fernsicht rechnen muss. Anfangs ist Gauß noch optimistisch gestimmt, da der September als freundlichster Brockenmonat gilt, doch scheint er einen ungewöhnlich mürrischen Spätsommer erwischt zu haben.
«Mein Dreieckspunkt auf dem Brocken war die Mitte des Turms auf dem Wirtshause oder richtiger die Mitte der Marmorplatte, die oben den Dorn der Wendeltreppe bedeckt» [Wor: 85]. Alle Dreieckspunkte sind inzwischen miteinander verbunden, nur vom Brocken aus wollen in diesen Wochen die Winkelmessungen zu den anderen Punkten einfach nicht gelingen. Was nützt ihm das innovativste Messverfahren mit Sonnenlicht, wenn ihm der Nebel an den meisten Tagen «keine sechs Schritte» Sicht lässt. Insgesamt sind nur «einzelne halbe Stunden» zum Beobachten geeignet, zu wenig Zeit für wiederholte Winkelmessungen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind es vier vergeudete Wochen in dieser Einöde aus Granitfelsen, windzerzausten Fichten, Zwergbirken und anspruchsloser Hochmoorflora – ein Hauch von Island und sibirischer Steppe. Die einzige Erkenntnis, die Gauß beim Abstieg mitnimmt: Das Heliotroplicht lässt sich vom Brocken aus auf dem 70 Kilometer entfernten Hohen Hagen tatsächlich mit bloßem Auge sehen. Das macht Hoffnung auf den zweiten Versuch im nächsten Sommer.
Kein prachtvoll funkelndes Sternchen, sondern ein wildflackerndes Feuer nehmen die Einwohner der Gemeinde Dransfeld am Fuß des Hohen Hagens ein paar Wochen nach Gauß’ Rückkehr vom Brocken wahr. Das Signalgerüst aus Fichtenholz auf dem Gipfel steht in Flammen. Unbekannte haben es in Brand gesteckt. Den Verlust kann Gauß leicht verschmerzen. Solche Signaltürme werden bald der Vergangenheit angehören. Seine Triangulation mit Heliotroplicht wird sich als
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