Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Gauß’ Stimmungslage zwischen Mutlosigkeit nach körperlicher Verausgabung und Freude über das Gelingen der Verbindungen. Auf offenem Pferdewagen oder zu Fuß unterwegs vom Gasthof zur Arbeit, wird er einige Male von heftigen Regenschauern überrascht und bis auf die Haut durchnässt. Auf dem Hausselberg muss er sogar seine nassen Kleider ausziehen und «barfuß» observieren. Über solche Unannehmlichkeiten kann er nachträglich lachen. Nur die Hitze findet er «grässlich». Vor allem in schwüler Luft ist er «angreifenden Fatiguen» ausgeliefert, die ihm die Arbeit so sehr verleiden, dass er am liebsten alles hinschmeißen möchte. Sobald es aber etwas kühler wird, fühlt er sich «so gesund wie seit Jahren nicht mehr» [ShuI: 411]. Und in Zeven lobt er ausdrücklich die «electricitätsfreie Luft» und meint damit die von Gewitterschwüle freie Luft.
Ende Juni 1824 fährt Ehefrau Minna zur Kur nach Bad Ems. Kurz darauf gönnt Gauß sich sechs Wochen Urlaub bei Wilhelm Olbers in Bremen. Man mag sich fragen, ob dieser ungewöhnlich lange Besuch in Bremen wieder so eine künstliche Verlängerung des Unterwegsseins und eine kleine Flucht vor der deprimierenden häuslichen Situation ist. Während der Kur und kurz nach ihrer Rückkehr aus Bad Ems verschlechtert sich Minnas Zustand. Eine Zeit lang schwebt sie sogar in Lebensgefahr. Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass Minnas Krankheit ausgerechnet in der Zeit kulminiert, als ihr Ehemann bei Olbers eine Auszeit von Arbeit und Familie nimmt. Aber es ist auch vorstellbar, dass die Eheleute eine Abmachung getroffen haben und Minna ihn geradezu drängt, sich abseits ihres Krankenlagers zu erholen. Vielleicht besteht sie sogar darauf, ihm keine Nachricht über den Ernst ihrer Lage zu schicken. Im Oktober schreibt Gauß an Schumacher: «Sie war im August und September viel kranker als ich damals wusste, fast ohne Hoffnung» [ShuI: 413].
Im April 1825 kommt Gauß buchstäblich unter die Räder. Im März hat er gerade einen neuen Wagen gekauft, da der alte nach vier Jahren Rumpelei durch die Heide verschlissen war. Zu diesem Zeitpunkt wohnt er in der Posthalterei in Zeven, wenige Kilometer vom Dreieckspunkt Brüttendorfer Berg entfernt. Mittlerweile hat er sein heliotropisches Nachrichtensystem so erweitert und verfeinert, dass die Signale «über zwei Zwischentelegraphen» [BGB: 453] bequem in sein Zimmer geleitet werden. Da sich Licht mit beliebig vielen Spiegeln um beliebig viele Ecken lenken lässt und Gauß ein Meister der Reduzierung ist, lassen sich die sogenannten Zwischentelegraphen wohl als zwei optimal platzierte Spiegelsysteme zwischen Brüttendorfer Berg und der Zevener Poststation vorstellen. So verrät ihm der verabredete Blinkcode, dass Heliotroplicht vom Bremer Ansgariiturm auf dem Brüttenberg zu sehen sei. Sofort macht er sich mit seinem Instrumentenwagen auf den Weg dorthin, wobei ihm ein paar schöne Messungen gelingen. Auf dem Rückweg gerät sein Wagen in eine zu tiefe Fahrrinne und kippt um. Dabei fallen ihm die Instrumentenkisten auf Bauch und Oberschenkel.
«Aufs Inständigste bitte ich Sie, mich noch hier in Zeven zu besuchen … Die Disappointements , die mich hier betroffen, haben mich ganz niedergeschlagen gemacht, ich fühle eine Muthlosigkeit, wie ich sie sonst an mir nicht kenne. Ihr Besuch wird mich aufrichten» [Olb2: 396], sehnt sich das Unfallopfer seinen Freund Olbers aus dem 40 Kilometer entfernten Bremen herbei – immerhin fast eine Tagesreise mit der Postkutsche. Im nächsten Brief wiederholt er den leidenschaftlichen Wunsch, Olbers zu sehen. Ein paar Tage später treffen Olbers und Schumacher gemeinsam zu einem Kurzbesuch in Zeven ein. Offenbar hat dieser glimpflich verlaufene erste Straßenverkehrsunfall seines Lebens Gauß in eine Krise gestürzt. Schon am übernächsten Tag haben sich die Schmerzen verloren, aber die niedergeschlagene Befindlichkeit bleibt. Gauß fühlt sich einsam und hilflos in der Moorlandschaft, hadert mit sich selbst und der Unmöglichkeit, perfekte Messungen zu absolvieren. Jetzt, da der Anschluss an das dänische und holländische Dreiecksnetz unmittelbar bevorsteht und das große Unternehmen zu Ende geht, ängstigt ihn womöglich auch die Frage, was anschließend auf ihn zukommen mag.
In Langwarden, dem nördlichsten Flecken der Halbinsel Butjadingen zwischen Bremerhaven und Wilhelmshaven, soll die 40 Kilometer entfernte Insel Neuwerk vor Cuxhaven angepeilt werden. Auch noch so kurz vor dem Ziel
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