Gauß: Eine Biographie (German Edition)
unaufschiebbarer Arbeiten. Auf den besonderen Gunstbeweis Humboldts geht er gar nicht ein. Der macht sich, ein wenig pikiert, einen Vermerk auf dem Brief, Gauß habe wohl das Ausmaß seiner Gastfreundschaft nicht recht verstanden, und versprüht dann im nächsten Brief seinen ganzen Charme. Die Gasthöfe in Berlin seien nicht unbedingt stilvoll, zudem hoffnungslos überfüllt bei 400 Unterkunft suchenden Wissenschaftlern. In seinem Haus aber sei allein für Gauß ein geräumiger Salon reserviert mit der Aussicht auf einen schönen Garten: «Sie empfangen Besuche und leben in meinen anstoßenden Zimmern. Sie frühstücken und speisen Mittags und Abends, mit mir oder ohne mich, zu den von Ihnen befohlenen Stunden. Bringen Sie einen Bekannten mit, so logire ich ihn in einem nahen Hause. Sie haben einen Wagen jedesmal, wenn Sie es anordnen. Alles ist meine Sorge. Ein hiesiger Bekannter führt Sie umher, wenn ich, wegen des freilich lästig werdenden Andranges der Fremden, Sie nicht selbst begleiten kann … Je länger Sie bleiben, desto mehr wird es mich freuen und ehren» [Bim 2 : 34 f.].
Derart geschmeichelt und gewiss auch wegen der Aussicht auf eine Veränderung seiner beruflichen Lage, sagt Gauß zu. Humboldt ist begeistert und stellt dem Eremiten von Göttingen gleich zum Auftakt ein «kleines Fest für 600 Freunde» in Aussicht. Zu denen selbstverständlich auch König und Kronprinz gehören. Gauß nimmt eine lange, strapaziöse Reise in Kauf und bleibt tatsächlich drei Wochen bei Humboldt. Anschließend bedankt er sich bei seinem Gastgeber: «Sie haben mir, mein Verehrtester Freund, meinen Aufenthalt in Berlin mit so großer aufopfernder Güte in jeder Beziehung so genußreich und lehrreich gemacht, dass ich meine Dankbarkeit mit Worten nicht ausdrücken kann. Ich zähle diese mir unvergeßlichen Tage zu den glücklichsten meines Lebens» [Bim 2 : 37].
Was ist geschehen? Die beiden Männer fühlen sich in ihrer unbedingten Liebe zu Wissenschaft und Wahrhaftigkeit zueinander hingezogen. Beide haben in Göttingen studiert, Gauß’ Gönner, Herzog Carl Wilhelm Ferdinand, ist Humboldts Taufpate gewesen, und Alexanders Erzieher Joachim Campe wollte als erster deutscher Schulrat das Braunschweiger Bildungssystem revolutionieren, als Carl in Büttners Katharinenvolksschule erstmals sein Talent zeigte. Beide sind fünf Jahre lang durch die entlegensten Gegenden gezogen – einer in Südamerika, der andere in der norddeutschen Tiefebene. Sie haben die ärgsten Schwierigkeiten bewältigt, um die Welt zu vermessen und dem Geheimnis der wahren Erdgestalt auf die Spur zu kommen.
Aber es ist nicht allein Humboldts Gastfreundschaft, die Gauß unvergesslich bleiben wird. Während der Tagung lernt er den Vortragsredner Wilhelm Weber kennen und glaubt, in dem erst 24 Jahre alten, scharfsinnigen Physiker ebenfalls eine verwandte Seele entdeckt zu haben. Weber hat bereits ein Buch über Wellenbewegungen geschrieben und ist ein glühender Verehrer des großen Gauß. Für interessierte Tagungsteilnehmer hat Humboldt in seinem Haus ein ganzes Kabinett mit magnetischen Apparaten eingerichtet. Entzückt nimmt Gauß sie in Augenschein. Humboldts besonderes Interesse gilt der Erforschung des Erdmagnetfeldes. Dass die Kompassnadel nicht wirklich auf den geographischen Nordpol weist, ist den Physikern der 1820er Jahre bekannt. Der weitgereiste Humboldt hat an jedem Ort den Erdmagnetismus gemessen und die jeweiligen Abweichungen der Magnetnadeln vom Nordpol festgestellt. Sein Plan ist nichts Geringeres als eine vollständige Kartierung des Erdmagnetfeldes durch gutorganisierte weltweite Beobachtungen. Humboldt erzählt von seinen Reisen, zeigt dem Gast seine umfangreiche Messdatensammlung, die nach einer ordnenden Hand verlangt und viele wunderbare Glockenkurven verspricht. Hier fühlt sich der Theoretiker Gauß in seinem Element. Das Humboldt’sche Projekt ist eine besondere Herausforderung, denn für das Erdmagnetfeld gibt es noch keine mathematische Formulierung.
In diesen zweieinhalb aufregenden Wochen begreift Gauß wohl erst so richtig, wie sehr ihn die lebendige, tägliche Kommunikation mit gleichrangigen Köpfen voranbringen könnte. Für seinen Freund Gerling findet er ein eindringliches Bild. Er spricht vom «unvergleichlichen Humboldt» und schreibt dann: «Man lebt in Berlin sehr angenehm. Der Abstich gegen das stille Leben in Göttingen ist sehr groß. Es ist für den Geist fast wie der Übertritt aus atmosphärischer Luft
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