Gayheimnisse reloaded (German Edition)
August 1945, als die Japaner, einem Befehl der Obersten Heeresleitung entsprechend, begannen, die Baracken abzureißen. Aus seinem Fenster beobachtete Jack mit versteinertem Herzen Yukio, wie er in seiner gewohnt martialischen Haltung dastand und diese Arbeiten überwachte.
In der unausgesprochenen Überzeugung, dass ihre Beziehung beendet war, vermieden die beiden von nun an jedes Zusammentreffen unter vier Augen. Kein Kuss. Keine Umarmung. Es hätte doch nur bedeutet, den Dolch noch tiefer in die Wunde zu stoßen. Zumindest für den jungen Amerikaner.
Jack nahm all seine Sehnsucht und seine Liebe und barg sie im gleichen Winkel seines Herzens wie »Yukio«, dann verschloss er es. Für immer.
Zu Beginn des Septembers 1945 landete ein Kriegsschiff unweit der Insel, mehrere kleine Boote nahmen die Gefangenen auf und brachten sie ins Mutterschiff. Die japanischen Bewacher waren drei Tage zuvor gegangen. Sie hatten ihre Sachen gepackt, hatten sich vor den Überlebenden verbeugt und waren dann im dichten Blattwerk des Urwalds verschwunden. Yukio Tokugawa hatte für John, genannt »Jack« Mulqueen kein Lächeln, ja nicht einmal einen Händedruck gehabt. Und als Jack mit seinen Kameraden die Kajüten im Zerstörer »Washington« bezogen hatte und die Wellen gegen die Bordwand schlugen, da war er sich nicht einmal mehr sicher, ob jene Liebesnächte überhaupt stattgefunden hatten.
***
Jack saß in seinem klimatisierten Sprechzimmer, an den Wänden anatomische Zeichnungen und in einem Glasschrank verschiedene Medikamente. Der Sommer in Tokio war drückend und schon am frühen Morgen heiß. Dank der Klimaanlage, die ihm die Regierung spendiert hatte, war es hier drinnen allerdings erträglich. Seit halb acht untersuchte er wie jeden Tag Kriegsgefangene, erstellte Gutachten zur Haftfähigkeit und schrieb Rezepte. Er erkannte Simulanten mittlerweile schon, wenn sie hereinkamen. Aber war er nicht auch ein Simulant? Als er nach Hause hätte gehen dürfen, hatte er seinen Dienst in Japan verlängert. Begründung: Er wollte beim Wiederaufbau helfen. Zu Hause hätte seine Praxis gewartet und seine Verlobte. Und dann hätte er eine Entscheidung treffen müssen. Er hätte aus Miss Stacy Schuler eine Mrs John Mulqueen machen müssen. Denn sie hatte auf ihn gewartet. All die Jahre hindurch. Und da war eine Heirat das Mindeste. Jack sah auf das Foto des letzten Gefangenen, den er untersucht hatte. Was für ein beschissener Lügner du bist , dachte er. Nicht mal dir selbst gegenüber bist du ehrlich.
Die Wahrheit war nämlich, dass er dann Japan hätte verlassen müssen. Und das konnte er nicht.
Die Tür ging auf und er bemerkte einen leicht humpelnden Schritt. Das versuchten die meisten. Zwecklos bei ihm. Er ignorierte den Humpler.
Ja, wenn er ehrlich war, ganz ehrlich zu sich selbst, dann musste er sich eingestehen, dass ihn nur eines davon abhielt, zu gehen: Hoffnung. Dumme, irre Hoffnung. Tief innen hatte er nicht aufgegeben. Starrte alle hoch gewachsenen Japaner an, die ihm begegneten. Schaute die Straßen auf und ab nur in der einen Hoffnung, nämlich der, dass Yukio auftauchen möge. Yukio, der wahrscheinlich irgendwo im Urwald verrottete. Oder der heimgekehrt war zu Frau und Kindern. Yukio … Aber wenn die Zeiten ruhiger würden, das Land wieder alles auf die Reihe bekommen hatte, dann würde er sich auf die Suche machen. Beim Meldeamt nachforschen, beim Roten Kreuz. Solange musste er einfach durchhalten. Für Yuki o – der ihn wahrscheinlich, wenn er ihn denn wieder träfe, nicht mal mit dem Arsch anschauen würde, weil Jack keinerlei Bedeutung für ihn hatte. Er wird sich nicht mal mehr an deine Fresse erinnern , dachte er zynisch in Erinnerung an ihren Abschied. Aber: egal – dann hätte er wenigstens die Sicherheit. Würde das nächste Schiff nach Hause nehmen, seine Praxis wieder eröffnen und Stacy heiraten. Kurz: ein ehrbares, amerikanisches Leben führen.
Er hörte ein leises Ächzen. Tut so, als könne er nicht mehr stehen …, dachte Jack.
» Setzen Sie sich!«, knurrte er. Der Mann tastete den Stuhl ab. Dann ein Scharren. Der Typ saß. Gute Vorstellung. Jack war nicht eine Sekunde bemüht, auch nur höflich zu erscheinen.
Er unterschrieb das Attest und klappte den Pappdeckel zu. Dann sah er auf.
» Oh, Gott«, war alles, was er herausbrachte. Es war ein Moment vollkommenen Schmerzes und vollkommenen Glücks. Er blickte in jenes Gesicht, dass ihn Tag und Nacht verfolgte, begleitete. Doch nur die Hälfte
Weitere Kostenlose Bücher