GayLe Stories, Band 2: Nathanael
Reverend, den Text kennen Sie besser als ich... dann das gleiche mit einem Kelch Wein. Wir waren schon fast am verhungern, als endlich das richtige Essen aufgetischt wurde, es schmeckte auch, aber die Köchin kannte ich nicht.
Während des Essens legte mein Vater sein Gewand immer noch nicht ab und so saßen wir, zwei modern gekleidete Schüler und eine Gestalt wie aus einem schlechten Film.
Er berichtete von den Veränderungen auf der Farm, von Onkeln und Tanten, wie entschlafen sind, von Neger-Familien, die uns verlassen hatten und von neuen Landarbeitern, die hergezogen waren.
„Du wirst also vielleicht noch vier, fünf Leute hier kennen. Viele der Kinder sind ebenfalls in einer Stadt in Schulen, neue Kinder wurden geboren – das Leben ging hier weiter, während es aus Deiner Sicht hier sicherlich stehen geblieben ist.
Auch ich habe mich verändert, wie Du schon bemerkt hast, ich trinke nichts mehr außer dem Meßwein zum Gottesdienst und mal einem Glas bei Tisch und ich bin nun Prediger meiner Kirche geworden, als ich ihr versprach, hier im Haus einen eigenen Raum für den Gottesdienst einzurichten. Wie Du gesehen hast, habe ich das auch getan.“
Zum Ende des Essen erhob er sich und begann ein wirres Bittgebet für sich und gegen die Sünde und für uns und gegen die Sünde und für die Farm und gegen die Sünde und für die Tiere und gegen die Sünde und für die Felder und gegen die Sünde – wir beide mußten furchtbar aufpassen, nicht zu lachen anzufangen, so oft kam er auf das Lieblingsthema zurück. Und doch: irgendwie war uns in diesem Moment auch bewußt, daß er das, was wir beide füreinander empfanden wohl unter „Sünde“ einordnen würde.
Satt, aber bedrückt begaben wir uns nach dem Essen in den ersten Stock, also hier in diese Etage, und bezogen die beiden Zimmer, die man nebeneinander für uns hergerichtet hatte. Meine Eltern schliefen von je her im obersten Stockwerk.
Nach ein paar Tagen, die immer mit einem Morgengebet anfingen, von einer Mittagspredigt unterbrochen wurden und mit einem Abendmahl samt Bitt-Flut endeten, hatten wir uns schon an den kauzigen Alten, wie Eduardo ihn nannte, gewöhnt und ich begann ganz vorsichtig, ein leises Gefühl von Heimat in mir zu entdecken.
Er hatte Recht gehabt, die wenigsten der hier anwesenden kannte ich noch und die, die ich noch kannte, schienen mir in den zwei Jahren um Jahrzehnte gealtert zu sein. Selbst die Kinder, die ich noch als ganz klein kannte und die während der Ferien hier ab und zu aufkreuzten auf dem Weg zu einem Ferienlager oder von dort gerade kommend, waren mir fremd geworden und ich freute mich schon darauf, zu Semesterbeginn wieder von hier weg zu sein.
Mein Vater war nicht nur fromm geworden, sondern auch rüstig geblieben, er war knapp 50 Jahre – ich mußte also noch keine Entscheidung treffen, ob und wann ich zu der Farm auf immer zurückkehren wollte.
Ein paar Tage später hatten Eduardo und ich uns schon an einer High-School in Chicago beworben und ich teilte dies meinem Vater mit. Er war überhaupt nicht davon begeistert. Einmal sei Chicago so weit weg, argumentierte er, zum anderen sei diese Universität nicht gerade für ihre gottesfürchtige Ausrichtung bekannt. Er selbst hätte uns lieber nach Utah oder Iowa geschickt, das sei zwar ebenfalls sehr weit, aber dafür sei bekannt, daß an diesen Schulen sehr genau auf die Einhaltung des Gebots der Keuschheit geachtet würde.
Nein danke, dachten wir bei uns und machten uns nichts draus, bis nach einigen Tagen eine Zusage einer Mormonen-Universität irgendwo in Utah eintrudelte – wir hatten uns hier gar nicht beworben.
Meinen Vater zur Rede gestellt erfuhren wir, daß er uns dort angemeldet und dafür auch unsere Unterschriften gefälscht hatte. Wir waren stocksauer und verschwanden den gesamten Tag über in einem der umliegenden Wälder. Der Alte konnte seine Mittagspredigt vor leeren Stühlen halten.
Einbrechende Dunkelheit und Hunger trieben uns schließlich wieder heim, wir hatten am Tag beschlossen, diese Anmeldung und Zusage der Mormonen-Uni einfach zu ignorieren, so, als habe sie es nie gegeben.
Zu Hause angekommen erwartete uns ein furioses Donnerwetter in seiner „Kapelle“, das wir auf Knien über uns ergehen lassen sollten.
Doch wir hatten einfach die Schnauze voll. Mitten in einem seiner nicht endenden wollenden Sätze erhoben wir beide uns, verneigten uns vor einem der Kreuze, bekreuzigten uns und ließen den tobenden Alten
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