GayLe Stories, Band 2: Nathanael
kommen.
Es war ein beklemmendes Gefühl, als ich nach so langer Zeit – ich war die letzten Ferien nicht heimgefahren, insgesamt knapp 2 Jahre lang – wieder aufs Land zu fahren. Mittlerweile kam ich mir selbst wie ein Großstadtmensch vor und konnte mir ein Leben auf dem Lande, fernab jeder weiteren Zivilisation und vor allem fernab des von mir so geliebten Meeres nicht mehr vorstellen.
Zwiegespalten war mein Gefühl, auf der einen Seite freute ich mich darauf, alle wieder zu sehen, auf der anderen Seite graute mir vor meinem Vater – war er jetzt dabei, sich selbst heilig zu sprechen oder genügte schon ein brennendes Streichholz, um ihn dank seines Alkoholgehalts in Flammen aufgehen zu lassen? Auf der dritten Seite war mir auch klar, daß dieser Besuch eine Entscheidung bringen würde und ich vermutete ganz richtig, daß diese in Richtung Abschied ging.
Ganz konkret: mir war einfach flau im Magen.
„Wie geht es Dir?“, fragte mich Eduardo, als wir im Überlandbus saßen. Der Bus war nur halb voll und wir hatten es uns ganz hinten auf der Bank bequem gemacht. Es würde eine lange Fahrt werden, rund 5 Stunden brauchte dieser Bus, den Schulbus von früher gab es schon seit über einem Jahr nicht mehr.
„Ich hab´ so ein ganz komisches Gefühl hier, hier im Magen“ und legte seine Hand auf meinen Bauch. „Irgendetwas paßt nicht, ich weiß aber nicht, was. Vielleicht ist es, daß ich vor meinem Vater Angst habe, vielleicht aber auch einfach das Gefühl, nicht mehr dorthin zu gehören.
Und wie geht es Dir?“
„Mir ist es auch ganz komisch. Ich freue mich, daß Du mich eingeladen hast und ich mit Dir kommen darf. Ich hätte sonst nicht gewußt, wohin jetzt in den Wochen. Aber ich bin auch unendlich traurig, daß meine Eltern nicht mehr leben, wenn ich auch nicht viel von ihnen hatte – bald nach meiner Geburt wurde ich von einer Nanny übernommen, meine Eltern habe ich nur mal am Abend und am Wochenende gesehen – aber sie waren lieb und haben mir immer gezeigt, daß sie mich über alles lieben.
Das fehlt mir und gerade jetzt, wo wir zu Deinen Verwandten fahren, wird mir der Verlust dieser Liebe besonders schmerzlich bewußt.“
„Aber ich liebe Dich doch auch“, protestierte ich leise.
Er lächelte mich an, seine Züge trugen dabei sein offen liegendes Herz. „Und ich liebe Dich. Ich liebe Dich mehr, als Du Dir vielleicht vorstellen kannst und ich weiß, daß auch Du mich liebst. Doch trotzdem ist es etwas Anderes. Die Liebe, die wir zu einander empfinden, ist eine andere, als die eines Kindes zu seinen Eltern.“
Ich hoffte, daß in meinem Fall noch etwas von dieser Liebe vorhanden war.
Dann flüsterte er unseren Liebes-Satz in mein Ohr und meine Welt begann, sich wie aus den Bruchstücken eines zerbrochenen Tellers wieder neu zu erbauen.
Am späteren Nachmittag kamen wir endlich auf unserer Farm an. Sie lag da wie eh und je, nichts schien sich verändert zu haben, Tiere, die Baumwolle war noch nicht reif, Kinder spielten, Hunde bellten, Schafe blökten – alles war, wie ich es in Erinnerung hatte. Und doch war etwas anders. Ich konnte mir nur nicht erklären, was.
Wir betraten das Haus und ich sah die erste Veränderung: aus unserem damals gemütlichen Wohnzimmer war eine Art Kirchenraum geworden, mit Altar, Stuhlreihen und die Wände über und über mit Christusbildern behängt. Mindestens ein halbe Dutzend Kreuze in verschiedenen Größen hingen im Raum, Kerzen brannten und mein Vater stand am Altar wie der Herrgott persönlich. Sein graues Haupthaar hatte einem kahlen Schädel Platz gemacht, dafür zierte ein mächtiger schneeweißer Bart sein Kinn. Er trug ein liturgisches Phantasiegewand, das ich irgendwo zwischen Napoleon und einer Papst-Montur einordnete.
„Der Herr sei gepriesen, denn er ist mächtig und groß. Laßt uns den verlorenen Sohn willkommen heißen, knien wir nieder in Andacht und Dankbarkeit!“ donnerte seine Stimme durch den Raum.
Verdutzt folgten wir seinem Befehl.
Er setzte nun an zu einer unendlich langen Dankesrede, viel mehr einem Dankesgebet, an dessen Ende wir uns endlich von unseren schmerzenden Knien erheben durften.
Endlich trat er zu uns näher, nahm mich in den Arm und begrüßte auch Eduardo auf formvollendete Weise. Ich roch keinen Tropfen Alkohol an ihm.
Das Abendessen war schon angerichtet und ich kam mir vor, wie beim letzten Abendmahl von Jesus. Mein Vater brach das Brot, reichte es uns und sprach... nun ja,
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