GayLe Stories, Band 2: Nathanael
Ich hätte auch dauerhaft an der Decke schweben oder in einer Mauer leben können, doch irgendwie fand ich das zu albern.
Ich sann meiner eigenen Geschichte nach und der Regen außen vor dem Fenster ersetzte meine Tränen.
Ich weiß nicht, wie spät es war, vermutlich weit nach Mitternacht, als sich die Tür von Eduardo Zimmer leise und heimlich öffnete und John Gabriel herausschlich. Ebenso leise schloß er die Türe wieder hinter sich.
Er blickte sich unsicher um und tastete sich dann in meinen Salon.
„Nathan, Sir, schlafen sie?“ fragte er leise in die Finsternis. Ein plötzlicher Blitz erhellte den Raum, er fuhr vor Schreck zusammen, doch während der Sekunden kurzen Helligkeit hatte er meinen Sessel auch schon ausgemacht.
„Nein, John Gabriel, ich schlafe nicht. Wir Geister brauchen nicht viel Schlaf, eigentlich gar keinen. Was kann ich für Dich tun? Möchtest Du Dich setzen? Moment mal, ich mache mal ein wenig Licht“ und einige der uralten Kerzen in meinem Raum begannen zu brennen und zu flackern. Das Kerzenlicht warf unruhige Schatten an die Wand, was die unheimliche Situation mehr verschlimmerte, aber den Jungen doch zu beruhigen schien.
Er griff sich einen Sessel und schob ihn an mich ran. „Darf ich Sie stören?“ meinte er und setzte sich hin.
„Natürlich darfst Du. Du störst auch nicht, im Gegenteil, ich freue mich sogar. In diesen über 20 Jahren, die ich hier schon verbringen mußte, kamen nur selten Gäste herein. Die meisten davon waren Katzen, die mich erkannten und sich dann ein paar Tage bei mir aufhielten. Aber auch Katzen brauchen etwas zu fressen und seit dem der Hof verlassen ist, gibt es hier nicht mehr sehr viel davon. Vielleicht mal ein paar Mäuse.
Der eine oder andere Landstreicher hat mich mal besucht, die meisten jedoch entschieden sich, meine Erscheinung dem Fusel zu verdanken, den sie in sich hinein kippten und schliefen bald ein, um am nächsten Morgen ohne Gruß und Dank das Haus zu verlassen.
Ihr seid, wenn ich mir das recht überlege, überhaupt die erste Gruppe von Menschen, die mich besucht hat und mit der ich reden konnte.“
„Sie armer, armer Mensch“, meinte der Junge, „was müssen Sie leiden. An Ihrer unendlichen Einsamkeit und an ihrer Trauer.
Ich hoffe nur, daß es mir einmal besser geht.“
Ich horchte auf.
„Warum, was ist mit Ihnen los?“
„Ich bin ebenfalls schwul. So, wie Sie. Nur, daß ich das Glück hatte, fast ein viertel Jahrhundert später geboren worden zu sein, als Sie und noch dazu in eine sehr tolerante Familie. Das soll nicht heißen, daß ich es meinen Eltern schon gesagt hätte, aber ich weiß, das es kein zu großer Schock sein wird.
Ich habe noch keinen festen Freund, aber als ich heute Abend Ihre Geschichte hörte, da fiel mir ein, wie sehr ich so einen Menschen vermisse, den ich lieben kann.“ Ein paar Tränen auf seinen Wangen reflektierten das Kerzenlicht. Er machte eine kleine Pause.
„Wie ist das aber denn mit Ihnen als Geist? Haben Sie keine Gefühle mehr oder ist da noch irgendein Gefühl da – neben Trauer und Einsamkeit?
Ich meine, Sie werden vermutlich kaum noch sexuelle Empfindungen haben und mit einer Erektion dürfte es auch nicht weit her sein, aber was ist mit Ihrem offenbar großen Gefühl der Liebe für Ihren Eduardo?“
Von irgendwoher in diesem Raum fielen ein paar Wassertropfen auf meinen Sessel, bis ich bemerkte, daß es meine Tränen waren! Reale Tränen, zu denen ich als Geist eigentlich gar nicht fähig sein sollte.
Der Junge sah die seltsame Erscheinung und lächelte wieder.
„Sehen Sie, Sie haben doch noch mehr, als Sie denken. Und Sie können auch mehr.
Was ich in Ihrer Erzählung vermißt habe, war auch nur ein Wort des Zorns über die Tat Ihres Vaters oder über seinen Fluch. Haben Sie ihn denn einfach so angenommen, sich nie – auch nur in Gedanken – dagegen gewehrt?“
Ich schluckte und zögerte. Was war das für eine Frage? Ich hatte sie mir schon oft genug selbst gestellt und nie eine Antwort gefunden.
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht, ob ich meinem Vater böse bin. Eigentlich sollte ich es sein, doch ich habe nie die Kraft dafür gefunden. Ich war vermutlich zu sehr damit beschäftigt, um mich selbst zu trauern und mich zu bemitleiden.“
„Ich trauere auch um Sie“, sagte der Junge, der plötzlich gar nicht mehr so jung erschien. „Aber ich trauere nicht darum, daß Sie gestorben sind oder verflucht wurden, sondern darum, daß Sie sich Ihrem
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