Gebannt - Unter Fremdem Himmel
kannte. So etwas ähnelte ihr überhaupt nicht – jedenfalls nicht der Aria, die sie einmal gewesen war.
An diesem Abend fertigte Perry aus ihren Decken und Seilen eine Hängematte. In einem Kokon aus warmem Vlies aneinandergepresst, während sein Herz kräftig an ihrem Ohr schlug, wünschte sie sich etwas, das sie in Reverie immer gehabt hatte: die Möglichkeit, in zwei Welten gleichzeitig zu leben.
Am nächsten Tag verbrachte sie Stunden mit Nachdenken, richtete ihre Wissbegierde nach innen. Was sie über sich selbst entdeckte, gefiel ihr: Aria, die wusste, dass man Vögel rupfen musste, solange sie noch warm waren, damit die Federn sich leichter lösten. Aria, die mit einem Messer und einem Stück Quarz Feuer machen konnte. Aria, die umschlungen von den Armen eines blonden jungen Mannes Lieder sang.
Sie wusste nicht, ob diese Seite von ihr zu dem passen würde, was in fünf Tagen geschah. Wie würde es sein, in die Biosphäre zurückzukehren? Könnte sie wieder in simulierten Nervenkitzel eintauchen – im Wissen darum, wie emotional, erschreckend und euphorisch die vergangenen Tage gewesen waren? Sie wusste es nicht, doch der Gedanke daran beunruhigte sie. Und bei der Beschäftigung mit der Frage, was nach ihrer Ankunft in Bliss geschehen würde, überraschte sie sich selbst: Sie stellte ihre Fragen und Ängste zurück und vertraute darauf, dass sie wissen würde, was zu tun war, wenn die Zeit gekommen war.
»Perry?«, flüsterte sie am späten Abend. Sofort wurde sein Griff um ihre Rippen fester, und sie wusste, dass sie ihn geweckt hatte.
»Hm?«
»Wann hast du deine extremen Sinne erhalten?«, fragte sie und konnte in der darauffolgenden Stille förmlich hören, wie er in seinen Erinnerungen versank.
»Meine seherische Fähigkeit kam zuerst. Da war ich ungefähr vier Jahre alt«, erklärte er schließlich. »Eine Weile bemerkte niemand, dass ich irgendwie anders war … nicht einmal ich selbst. Die meisten Seher können bei Tageslicht besser sehen, aber ich dachte, dass alle so sehen würden wie ich. Als sich herausstellte, dass ich nachts besser sehe, machte kein Mensch großes Aufheben darum. Jedenfalls nicht in meiner Umgebung. Ein paar Jahre später begann ich allmählich, Stimmungen wahrzunehmen. Damals war ich acht. Genau acht. Daran kann ich mich noch erinnern.«
»Wieso?«, hakte Aria nach, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie es wirklich wissen wollte – in seiner Stimme hatte irgendetwas Beunruhigendes mitgeschwungen.
»Meine Fähigkeit, Stimmungen zu riechen, hat alles verändert … Ab dem Moment begriff ich, wie oft die Menschen das eine sagen, aber das andere meinen. Wie oft sie gerade das haben wollen, was sie nicht haben können. Ich sah all ihre Beweggründe … Ich konnte es nicht vermeiden, Dinge zu erkennen, die die Leute eigentlich verbergen wollten.«
Arias Herzschlag beschleunigte sich. Sie tastete nach Perrys verletzter Hand. Seit der Abreise von Marrons Hof trug er keinen Verband mehr. Die Haut an der Oberseite hatte Stellen, die zu rau, und Stellen, die zu glatt waren. Aria führte sich die Hand an den Mund und küsste die marmorierte Fläche. Nicht im Traum hätte sie geglaubt, eine Narbe könne es wert sein, geküsst zu werden, doch sie liebte jede einzelne Narbe an ihm. Sie hatte sie inzwischen alle entdeckt und geküsst und darum gebeten, jede und alle Geschichten zu hören, die ihre Male auf ihm hinterlassen hatten.
»Was hast du damals erfahren?«, fragte sie.
»Dass mein Vater trank, um es in meiner Nähe überhaupt auszuhalten. Noch besser fühlte er sich, wenn er mich mit den Fäusten bearbeitete. Jedenfalls zeitweilig. Nie lange.«
Arias Augen füllten sich mit Tränen. Sie zog ihn an sich und spürte, wie angespannt er war. Diesen Teil von ihm hatte sie bereits erahnt. Irgendwie hatte sie es gewusst. »Perry, was könntest du getan haben, dass du so etwas verdient hättest?«
»Meine … Darüber habe ich noch nie gesprochen.«
Als er die Nase hochzog, spürte auch Aria einen Kloß im Hals. »Mir kannst du es erzählen.«
»Ich weiß … ich versuche es ja … Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Sie ist meinetwegen gestorben.«
Aria lehnte sich zurück, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Er schloss die Augen.
»Aber das war doch nicht deine Schuld. Das kannst du dir nicht wirklich anlasten. Perry … wirfst du dir das ernsthaft vor?«
»Mein Vater hat mir die Schuld daran gegeben. Warum sollte ich es dann nicht auch
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