Gebannt - Unter Fremdem Himmel
anfertigen, aber das würde Zeit brauchen. Außerdem hatte er seinen Bogen irgendwo dort unten verloren. Im Moment fiel ihm nichts ein, was er hätte unternehmen können. Er kniete sich hin und holte die Decken aus seinem Beutel. Sie waren um ihr Leben gelaufen, und obwohl sie die Kälte jetzt noch nicht spürten, würde das früh genug kommen.
Schweigend saßen sie nebeneinander, während die Nacht über dem Bretterverschlag hereinbrach. Das Geheul unten wurde durch die Dunkelheit noch verstärkt. Perry holte Wasser aus dem Beutel, doch Aria wollte nichts trinken. Sie hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Ein Gefühl der Beklemmung erfasste sie, und er wusste – spürte –, dass ihr die Geräusche körperlichen Schmerz bereiteten. Doch ihm fiel nichts ein, wie er ihr hätte helfen können.
Eine Stunde verging, in der Aria sich nicht ein einziges Mal bewegte. Perry glaubte schon, er würde langsam verrückt, als das Heulen plötzlich verstummte. Er setzte sich aufrecht.
Aria nahm die Hände von den Ohren. Ein flüchtiger Hoffnungsschimmer huschte über ihre Miene. »Sie sind noch da«, flüsterte sie dann.
Perry lehnte sich gegen die Seitenwand und ließ die Stille auf sich einwirken. Im nächsten Moment jagte ihm jedoch ein plötzliches Aufheulen einen Schauer über den Rücken. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an, als er dieses Jaulen vernahm ‒ es war anders als alles, was er jemals gehört hatte. Und ihn erfasste ein solch schweres, abgrundtiefes Gefühl, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Andere Wölfe stimmten ein und erzeugten einen heulenden Ton, bei dem sich ihm die Haare auf den Armen aufrichteten.
Nach ein paar Minuten erstarb das Geheul wieder. Perry wartete voller Hoffnung, doch dann setzte das Kläffen und Kratzen wieder ein. Als Aria aufstand und an den Rand trat, rutschte ihr die Decke von den Schultern, und die Bretter unter ihm verschoben sich. Perry beobachtete, wie sie auf die Wölfe hinabstarrte. Dann formte sie die Hände vor dem Mund zu einem Trichter und schloss die Augen.
Perry glaubte, erneut einen Wolf heulen zu hören. Noch während er sie beobachtete, konnte er nicht fassen, dass sie dieses Geräusch erzeugte. Das Gekläffe auf dem Waldboden verstummte. Aria schaute ihm kurz in die Augen. Dann stieß sie einen noch volleren, klagenden Laut aus, und ihre kraftvolle Gesangsstimme trug weiter als jedes Heulen der Wölfe unter ihnen.
Als sie geendet hatte, breitete sich Stille aus. Perrys Herz raste.
Er hörte ein leises Winseln und ein feuchtes Niesen … und dann das Trippeln von Pfoten, als die Wölfe sich in die Nacht zurückzogen.
Nachdem die Wölfe verschwunden waren, setzten sich Aria und Perry und teilten sich das Wasser. Perrys Furcht klang allmählich ab. Was blieb, war eine bleierne Müdigkeit. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht von Aria wenden, konnte nicht damit aufhören, sich Fragen zu stellen.
»Was hast du ihnen gesagt?«, wollte er schließlich wissen.
»Keine Ahnung. Ich hab nur ihr Geheul nachgeahmt.«
Perry nahm einen Schluck Wasser. »Das ist eine Gabe, die du da hast.«
»Eine Gabe?« Sie schaute eine Weile gedankenverloren in die Dunkelheit. »So habe ich das noch nie betrachtet. Aber vielleicht hast du ja recht.« Sie lächelte. »Wir sind uns ähnlich, Perry. Meine Stimmlage wird als dramatischer Sopran oder Falcon bezeichnet … sozusagen ein ›Falkensopran‹.«
Er grinste. »Gleich und Gleich gesellt sich gern.«
Nachdem sich ihre Anspannung etwas gelegt hatte, nahmen sie ein rasches Mahl aus Käse und Trockenobst zu sich, das Marron ihnen mitgegeben hatte. Dann wickelten sie sich in ihre Decken, lehnten sich gegen die Bretterwand und lauschten dem Wind, der die Zweige um sie herum rascheln ließ.
»Hast du ein Mädchen in deinem Stamm?«, fragte Aria nach einer Weile.
Perry blinzelte zu ihr hinüber. Sein Puls beschleunigte sich. Das war die letzte Frage, die er beantworten wollte. »Keines, das wichtig wäre«, erwiderte er dann vorsichtig. Das hörte sich zwar schrecklich an, entsprach aber der Wahrheit.
»Warum nicht?«
»Du weißt, was ich jetzt sagen werde, stimmt’s?«
»Rose hat es mir erzählt. Aber ich will es von dir hören.«
»Mein Sinn ist der seltenste aller extremen Sinne – und der mächtigste. Mehr als bei allen anderen Sinnesträgern kommt es bei uns darauf an, unsere Blutlinie rein zu halten.« Er rieb sich die müden Augen und stieß einen Seufzer aus. »Das Kreuzen extremer Sinne
Weitere Kostenlose Bücher