Gebannt - Unter Fremdem Himmel
Wo steckte sie? Aria versuchte es wieder und wieder, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen. Sie konnte sich nicht einmal atmen hören.
»Ich verstehe«, sagte Lumina. Sie erhob sich und glättete ihr maßgeschneidertes, schwarzes Kleid. »Ich hatte gehofft, du würdest deine Meinung ändern. Wenn du so weit bist, werde ich da sein«, fügte sie hinzu und verschwand.
Aria schaute blinzelnd in den goldenen Saal. »Mom?« Ihre Stimme erschreckte sie. »Mom!«, schrie sie, doch es war zu spät. Sie stand noch eine ganze Weile auf der Bühne, spürte die ungeheure Größe, die Leere des Saals, als tief in ihr ein eigenartiges Gefühl aufwallte, so als würde sie gleich explodieren. Wann sie schließlich zu schreien begonnen hatte, wusste sie nicht. Und dann wusste sie nicht, wie sie damit aufhören sollte: Das Geschrei, das aus ihrer Kehle drang, wurde lauter, immer lauter, so als würde es niemals enden. Erst begann der große Kronleuchter zu zittern, dann die vergoldeten Säulen und Logenplätze. Und schließlich zersplitterten mit einem Mal sämtliche Wände und Sitze und ließen Gold, Stuck und purpurroten Samt in alle Richtungen fliegen.
Keuchend fuhr Aria hoch und klammerte sich an die schäbige Matratze. Ihr Smarteye ruhte in ihrer Handfläche, feucht vom Schweiß ihrer Hand.
Im nächsten Moment betrat der Außenseiter das Haus. Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, gab ihr ein Stück Fleisch und ging dann wieder. Aria aß, zu benommen, um sich einen Reim zu machen auf das, was gerade geschehen war. Sie hatte geträumt. Nun fühlten sich sowohl ihr Körper als auch ihr Geist fremd an.
Sie hörte, dass der Außenseiter draußen durch die Trümmer streifte, und lauschte eine Weile auf die dumpfen Geräusche, wenn Steine über den Erdboden rollten oder scharf aneinanderschlugen. Als er Stunden später zurückkehrte, hatte er die marineblaue Decke zu einem Beutel umfunktioniert und trug sie wie ein Bündel über der Schulter.
Wortlos legte er sie ab und breitete sie aus. Dabei kam ein Haufen sonderbarer Gegenstände zum Vorschein: Ein Ring rollte über das Fleecegewebe und blieb dann liegen. Aria konnte noch erkennen, dass ein blauer Edelstein in den dicken, goldenen Reif eingelassen war, ehe der Barbar sich das Schmuckstück auch schon schnappte und in seinen Lederbeutel steckte.
Dann hockte er sich auf die Fersen, räusperte sich und meinte: »Ich habe ein paar Sachen für dich zusammengesucht … Ein Mantel. Aus Wolfspelz. Mit jedem Meter den Berg hinauf wird es kälter werden, und der wird dich warm halten.« Er warf ihr einen raschen Blick zu und schaute anschließend wieder auf die Gegenstände. »Diese Stiefel sind in recht gutem Zustand. Vielleicht ein bisschen weit, aber sie werden ihren Zweck erfüllen. Die Leinentücher sind sauber. Ausgekocht.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen, obwohl er die Augen gesenkt hielt. »Sie sind für … Na ja, du weißt schon. Dann sind da noch ein paar andere Sachen. Ich habe mitgebracht, was ich finden konnte.«
Aria spürte, wie sie einen Kloß im Hals bekam, während sie das Sammelsurium an Gegenständen betrachtete: ein zerlumpter, alter Ledermantel, mit so großen Löchern, dass sie ihre Finger hindurchstecken konnte, dafür aber mit dickem, silbrigem Pelz gefüttert. Eine schwarze Strickmütze, in deren Wolle Federn steckten. Ein Lederriemen mit einer Schnalle, der aussah, als hätte er einst als Zaumzeug gedient, nun aber einen besseren Gürtel abgab als der Verbandsmull, den sie zurzeit verwendete. Der Barbar hatte Stunden damit verbracht, diese Sachen aufzutreiben. Hatte sie ausgegraben, so wie zuvor ihr Trinkwasser und die Distelwurzeln – wie die meisten Dinge, die man in dieser Außenwelt benötigte.
»Was du da gestern über meine Zeichnungen gesagt hast … meine Tätowierungen«, setzte er an. »Damit hast du gar nicht so falschgelegen.« Er schaute auf und begegnete ihrem Blick. »Ich heiße Peregrine. Wie der Wanderfalke. Aber die meisten nennen mich Perry.«
Er hatte einen Namen. Peregrine. Perry. Neue Informationen, die es zu berücksichtigen galt. Passte der Name zu ihm? Besaß er eine Bedeutung? Aria stellte fest, dass sie ihm nicht einmal in die Augen schauen konnte. Ein Barbar hatte ihr erklären müssen, dass sie menstruierte. Sie biss sich auf die wunde Innenseite ihrer Lippe und schmeckte Blut. Ihr Blick verschwamm. Früher hatte sie kaum an Blut gedacht – und nun konnte sie ihm nicht mehr
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